Nervenheilanstalt auf der Bühne
Familie Flöz gastiert mit ihrem Programm „ Dr. Nest“in Stadthalle
– Psychotherapie im Maskenspiel: Fünf Schauspieler der „Familie Flöz“entführten am Sonntag die gut 500 Zuschauer aus der Stadthalle direkt in die Nervenklinik „Villa blanca“, wo „Dr. Nest“auf 16 skurrile Charaktere und sein Alter Ego trifft.
„Die Fahrkarten, bitte!“, „Noch jemand zugestiegen?“: Schon in der Viertelstunde vor dem Beginn des neuesten Stücks der Berliner Truppe ging Hajo Schüler durch die sich füllenden Sitzreihen der Halle. In Feinripp-Unterhemd und in langen AltMänner-Unterhosen. Eine junge Frau vertraute einem Zuschauer ihre Babypuppe an, um sie gleich danach wieder zurückzufordern. Auch die drei anderen Weißgekleideten benahmen sich – seltsam, könnte man sagen. Auf der Bühne probierten sie aus, wie viele Leute in zwei Arztkittel passten. Wie, keine Masken? Dabei sind die sorgsam gestalteten und typisierten Larven doch das Markenzeichen der 1996 an der Essener Folkwang-Hochschule gegründeten Gruppe. Nachdem in der letzten Produktion „Haydi“, in der es um das Thema Flucht ging, weitgehend „mit Sprache“agiert wurde, sind bei „Dr. Nest“wieder allein Gestik und Körpersprache die Ausdrucksmittel neben den Masken und den fantasievollen Kostümen.
Dazu kommen Musik – live gespielt – und ein raffiniertes Bühnenbild aus „wandernden Wänden“: Verschiebbare Elemente mit Türen, die auf der Rückseite Garderoben für die häufigen Masken- und Kleidungswechsel bieten. Videos überziehen alles mit Formeln, Zeichnungen von Gehirnwindungen und unheimlichen Farbspielereien. Mit dem Zug reist Dr. Nest – den Vornamen erfährt man nicht – an seine neue Wirkungsstätte. Und trifft dort auf den Kontrolleur, der nun aber eine operettenhafte Uniform trägt. In der Anstalt erwartet man ihn mit Blumenstrauß, doch zunächst vergeblich. Doch schon bald trifft er auf seine neuen Kollegen, die robuste und überaus effiziente Krankenschwester und auf einige Patienten.
Turbulente Szenen
Daraus ergeben sich mal turbulente Szenen, dann wieder ganz ruhige und intime Konstellationen. Da ist der untersetzte Mann mit der Trommel, in dessen Kopf metallisches Kreischen herrscht; die Frau, die ein „Baby“herzt, bis sich herausstellt, dass es nur ein gewickeltes Frotteetuch ist; der ständig Frierende; die Frau in Grün mit der Stehlampe; der „schwarze Riese“und der Diener, der ohne seinen Besen in sich zusammenfällt wie ein Wackelpudding. Dr. Nest nimmt sich für alle Zeit, behandelt sie mit alternativen Methoden. Den Patienten, der sich für Mozart hält und Samtbundhosen und Spitzenvolants trägt, bringt er auf den Trichter moderner Musik. Der ungepflegten dicken Frau mit dem roten Strickzeug folgt er brav auf ihren Wegen durch die Anstalt. Doch manchmal muss selbst er auf den Alarmknopf drücken: Auftritt rabiater Pfleger.
Bei aller Tragik blitzen immer wieder komische Situationen durch, wird im Publikum kurz aufgelacht. Regelmäßigen Zwischenapplaus erhält „Mozart“, bald Publikumsliebling. Doch Dr. Nest verliert mehr und mehr den Boden unter den Füßen, sieht sich von Nachtmahren bedroht, lauscht der Schwarzgekleideten, die ein Theremin spielt, ein 1920 erfundenes Musikinstrument, das ohne Berührung elektronische Töne erzeugt. Gruselig. Irgendwann sitzt der Psychiater nicht mehr auf dem abgewetzten blauen Metallstuhl und hämmert Berichte in seine manuelle Schreibmaschine, sondern liegt als Patient in dem weißlackierten Anstaltsbett. Seine Frau, die ihn einst an den Zug gebracht hat, reist nun an, um ihn zu besuchen. Mit kräftigem Applaus wird dem Darsteller-Quintett (neben Schüler Anna Kistel, Björn Leese, Benjamin Reber und Mats Süthoff) für die hervorragende Leistung gedankt. Noch lange stehen Besucher danach im unteren Foyer zusammen und diskutieren über das Erlebte.