Digitale Müllberge
Milliarden Daten müssen weltweit entsorgt werden
- Der Lyriker Paul Celan schrieb 1951 an seine damalige Geliebte, eine Hannele: „Paris, Freitagabend. / Mein Liebstes, ich habe nun sehr lange gesäumt und muß mich schämen! Verzeih. Die Gedanken waren jedoch immer bei Dir, und Du weißt es. Ich war in Sorge um Dich<TH>...“Der Brief, den das Deutsche Literaturarchiv Marbach kürzlich erworben hat, zeigt leichte Gebrauchsspuren, einen Knick in der Mitte, einen kleine Riss im Papier. Die geschnörkelte Schrift ist gut lesbar, einmal hat Celan ein Wort mit schwarzer Tinte durchgestrichen. Forscher werden sich noch viele Jahre mit diesem Schriftstück beschäftigen und auch der Frage nachgehen, wer diese Hannele wohl war.
Jeder kennt Artefakte wie diesen Brief, eigene Schriften und Objekte oder aus dem Nachlass Nahestehender: die alte Kamera des Opas, die Goldkette der Tante, Fotos und Briefe in Schubladen oder Schuhkartons, eine Armbanduhr oder ein besonderer Stein. Während die meisten Dinge auf dem Müll landen, wurden sie aufbewahrt und erzählen, brüchig und lückenhaft, die Geschichte eines Lebens. Heute nennt sich das Storytelling.
So wie sich die Begrifflichkeit ändert, ändern sich auch die Inhalte. Schallplatten sammeln nur noch Liebhaber, das Gros der Musik ist digitalisiert. Statt sorgfältig verfasster Briefe senden wir massenweise EMails in die virtuelle Welt. Statt wohlüberlegter Motivauswahl mit analoger und kostspieliger Fotografie drücken wir inflationär den Auslöser unserer Handykamera. Instagram zählt inzwischen eine Milliarde aktive Nutzer, die mehr als 40 000 Fotos oder Videos hochladen – in jeder Minute. Allein das Bilderkonvolut des Onlinedienstes bemisst sich aus vielen Milliarden, ganz zu schweigen von den Fotos, die, unberührt und im nächsten Augenblick vergessen, auf den Speichermedien von Privatpersonen schlummern, genauso wie die Bits und Bytes der Schriftsätze.
Auf diese Weise ergeben sich monströse Datenmengen. Die im Privaten oftmals nur noch wenige Brüche und schmale Lücken in der Geschichte eines Lebens offenlassen. Die modernen Speichermedien haben unser Verhältnis zur Vergangenheit verändert, individuell wie gesamtgesellschaftlich, meinen Wissenschaftler wie Christoph Classen vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, der von einem Erinnerungsboom spricht. Die Rede ist auch von der totalen Erinnerung.
Doch wie wirkt es sich aus, wenn kein aufgerautes und vergilbtes Papier mehr zwischen den Fingern kitzelt und nach Vergänglichkeit riecht? Wenn statt weniger Fotos von einzigartigen Momenten nun unzählige Bilder von Beliebigkeit zeugen? Was bedeutet es für das Storytelling unseres Lebens, wenn sich das Wichtige nicht mehr unterscheiden lässt vom Unwichtigen?
Erinnern und vergessen
Daten allein seien noch keine Erinnerung, meint die Berliner Fotografin Stephanie Neumann, die über das Erinnern und Vergessen geforscht hat. Genauso wie Erinnern ohne Vergessen nicht möglich sei. Doch wie sollen wir vergessen in einer rückwärtsgewandten Kultur, die alles Vergangene auf Festplatten und Speichersticks bewahrt? Und dabei das Leben bisweilen verpasst. „Die Krux ist“, meint Neumann, „je mehr ich dokumentiere, desto weniger erlebe ich den eigentlichen Moment und desto weniger erinnere ich mich später daran. Und je mehr Dokumente ich ansammele, desto mehr überlagern die unwichtigen die wichtigen Ereignisse.“Deshalb brauchen wir Methoden, um unsere Daten zu priorisieren, zu kuratieren und dann zu bewahren.
Wir müssen uns also den digitalen Müllbergen stellen. Entbehrliches entsorgen, Kostbarkeiten herauspicken und so zu Wertstoffsammlern unserer Existenz werden.
Auf Instagram und Facebook treffen wir schon eine Auswahl, gestalten unser Leben, geschönt und gefälscht, sagen Kritiker, ohne Ecken und Kanten, ohne die Narben und die Wunden. Auch Google will für uns aufräumen, bearbeitet Fotos, schlägt uns ungefragt Bildercollagen vor. Längst gibt es Apps, die für uns das Storytelling übernehmen, unsere Fotos nach Lebensereignissen zuordnen von der Einschulung über das erste Auto bis zur Geburt des Nachwuchses. Apps und Algorithmen sortieren und entsorgen für uns. Ein Stück weit überlassen wir ihnen dadurch aber auch die eigenen Erinnerungen, meint Neumann, die sich neue, clevere Werkzeuge wünscht, mit denen wir Artefakte selber verwalten und gestalten.
Aus Kontext werden Gefühle
Mit denen wir eine digitale Schatztruhe anlegen analog zu jener, die wir einst auf dem Dachboden fanden. Mit anderen Inhalten, aber nicht weniger spannend und auch sinnlich. Mit Standfotos und Bewegtbildern, mit Chatverläufen und Mails, mit Geräuschen und Gesprächen auf Audiodateien. Zum Lachen und zum Weinen. Damit aus persönlichen Daten Kontext entsteht und aus Kontext Gefühle werden. Nicht nur für uns, sondern auch für unsere Nachfahren.
Somit war früher alles anders, heute muss es deshalb nicht schlechter sein. Das sieht auch Ulrich von Bülow so, Leiter der Abteilung Archiv am Deutschen Literaturarchiv Marbach, wo Werk und Leben der Literaten immer seltener in Papierform ankommen. „Digitales können wir viel leichter archivieren“, sagt der Experte, der auch die neuen Forschungsmöglichkeiten schätzt. So besitzt beispielsweise eine E-Mail im Vergleich zum Brief neben dem eigentlichen Text auch eine Adressund eine Betreffleiste sowie Angaben über Datum und Tageszeit, Anhänge und Signaturen. Heute wüssten wir, wer die geliebte Hannele war, hätte Celan nur eine E-Mail geschrieben.