Vier Auswege aus dem Brexit-Stillstand
Neunzig Minuten Diskussion und kein Ergebnis – das britische Kabinett hat am Dienstag, elf Tage vor dem geplanten Austrittstermin, keine Einigung darüber erzielt, wie das Brexit-Dilemma gelöst werden soll. Das Land befinde sich „in der Krise“, teilte ein Sprecher von Premierministerin Theresa May mit und begründete dies mit John Bercows Intervention.
Der Präsident des Unterhauses („Mister Speaker“) hatte am Montag – mit Verweis auf einen mehr als 400 Jahre alten Beschluss – der konservativen Minderheitsregierung verboten, das unveränderte Austrittspaket den Abgeordneten diese Woche nochmals zur Abstimmung vorzulegen. Damit muss die Regierungschefin beim EU-Gipfel in Brüssel ohne Rückendeckung des Parlaments um eine Verschiebung des EU-Austritts bitten. In London werden nun vier Brexit-Szenarien diskutiert.
No Deal:
Brexit-Ultras auf den konservativen Bänken glauben, Bercows Entscheid habe ihre Präferenz wahrscheinlicher gemacht: den Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung, im Jargon No Deal genannt – und zwar zum geplanten Termin (29. März, Mitternacht). 23 Torys bekräftigten zu Wochenbeginn ihre Begeisterung für No Deal: „Er wird die Vorstufe sein zu einer sehr guten Vereinbarung.“In Regierungskreisen gilt die Sichtweise als naiv, wie BrexitMinister Stephen Barclay der BBC sagte: „Diese Abgeordneten klammern sich an Strohhalme.“Notfalls werde die Regierung den im Gesetz festgelegten Termin mittels Rechtsverordnung ändern, wie es das Unterhaus vergangene Woche gefordert hatte. Ganz auszuschließen ist freilich dieses Szenario noch nicht. „Die Vorbereitungen für einen No Deal“würden unverändert weitergehen, teilten der irische Premier Leo Varadkar und EU-Ratspräsident Donald Tusk am Dienstag mit.
Mays Austrittspaket:
Zweimal hat sich die Premierministerin im Untehaus eine blutige Nase geholt.
Doch zu Wochenbeginn gab es Anzeichen dafür, dass die Front ihrer Gegner wankt. Der nordirische Friedensnobelpreisträger Lord David Trimble riet den Abgeordneten zur Zustimmung. Schließlich habe May „erhebliche Zugeständnisse“gewonnen.
Zum Paket aus Austrittsvertrag und politischer Zukunftserklärung bekennen sich neuerdings auch harte Brexiteers wie die ehrgeizige frühere Sozialministerin Esther McVey. Könnte die Premierministerin vom EU-Gipfel Ende der Woche mit einem neuen Ergebnis zurückkehren? Eine stark veränderte politische Zukunftserklärung sowie ein neues Austrittsdatum im sonst unveränderten Austrittsvertrag würden eine neue Abstimmung ermöglichen. Mays De-facto-Vizepremier David Lidington widmete sich auch am Dienstag wieder Gesprächen mit der nordirischen Unionistenpartei DUP. Sollten deren zehn Abgeordnete Mays Austrittspaket ihre Zustimmung in Aussicht stellen, würden eigenen Angaben zufolge auch Dutzende konservative Hinterbänkler ihre Meinung ändern und ihrer Parteichefin wieder Gefolgschaft leisten.
Weicher Brexit:
Dafür wirbt seit Monaten eine Gruppe von Abgeordneten aller Parteien. Ihnen schwebt eine möglichst enge Anbindung Großbritanniens an europäische Zollunion und europäischen Binnenmarkt vor. Damit wäre auch die Offenhaltung der inneririschen Grenze garantiert. Dies wird von allen Verhandlungspartnern angestrebt, um in der einstigen Bürgerkriegsregion den vor 21 Jahren vereinbarten Frieden zu sichern.
Sympathien genießen die Initiatoren – darunter die erfahrenen ToryPolitiker Oliver Letwin und Nicholas Boles sowie Labours Stephen Kinnock – bei Oppositionsführer Jeremy Corbyn. Der Labour-Chef hält sich zwar nominell an die Forderung seiner Partei nach einem zweiten Referendum. In einem Interview am Wochenende wollte er sich aber nicht auf sein Abstimmungsverhalten festlegen. „Vielleicht wäre eine dynamische Beziehung mit Europa ein guter Weg zur Versöhnung unseres Landes“, sagte Corbyn. Sollte die EU den Briten eine Verlängerung der BrexitPeriode bis Jahresende oder sogar bis Ende 2020 zubilligen, dürfte die Wahrscheinlichkeit einer derartigen Lösung steigen.
Referendum und kein Brexit:
Ebenfalls möglich bleiben eine vorgezogene Neuwahl – oder ein zweites Referendum. Für Letzteres wollen eine Vielzahl von Gruppen bei einer Demonstration am Samstag werben. Die kleineren Oppositionsparteien und eine Gruppe von Unabhängigen brachten zuletzt aber gerade einmal 85 von 640 Stimmen zusammen.
Um erfolgreich zu sein, müssten auch die meisten Labour-Abgeordneten zustimmen. Der Weg dorthin führt womöglich über die beiden Hinterbänkler Peter Kyle und Philip Wilson, die folgenden Plan erdacht haben: Das Unterhaus stimmt Mays Austrittsvertrag zu – mit der Vorgabe, dass dieser dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden muss. Die Alternative wäre dann der geregelte Austritt oder der EU-Verbleib.
Corbyn und sein Brexit-Sprecher Keir Starmer haben das Vorhaben abgesegnet. Allerdings gibt es in der Labour-Fraktion gewichtige Einwände. Man könne den Wählern dieses „abgekartete Spiel“nicht zumuten, findet beispielsweise Gareth Snell aus Stoke. Dort wollten 2016 70 Prozent der Wählerschaft die EU verlassen.