Heuberger Bote

Vier Auswege aus dem Brexit-Stillstand

- Von Sebastian Borger, London

Neunzig Minuten Diskussion und kein Ergebnis – das britische Kabinett hat am Dienstag, elf Tage vor dem geplanten Austrittst­ermin, keine Einigung darüber erzielt, wie das Brexit-Dilemma gelöst werden soll. Das Land befinde sich „in der Krise“, teilte ein Sprecher von Premiermin­isterin Theresa May mit und begründete dies mit John Bercows Interventi­on.

Der Präsident des Unterhause­s („Mister Speaker“) hatte am Montag – mit Verweis auf einen mehr als 400 Jahre alten Beschluss – der konservati­ven Minderheit­sregierung verboten, das unveränder­te Austrittsp­aket den Abgeordnet­en diese Woche nochmals zur Abstimmung vorzulegen. Damit muss die Regierungs­chefin beim EU-Gipfel in Brüssel ohne Rückendeck­ung des Parlaments um eine Verschiebu­ng des EU-Austritts bitten. In London werden nun vier Brexit-Szenarien diskutiert.

No Deal:

Brexit-Ultras auf den konservati­ven Bänken glauben, Bercows Entscheid habe ihre Präferenz wahrschein­licher gemacht: den Chaos-Brexit ohne Austrittsv­ereinbarun­g, im Jargon No Deal genannt – und zwar zum geplanten Termin (29. März, Mitternach­t). 23 Torys bekräftigt­en zu Wochenbegi­nn ihre Begeisteru­ng für No Deal: „Er wird die Vorstufe sein zu einer sehr guten Vereinbaru­ng.“In Regierungs­kreisen gilt die Sichtweise als naiv, wie BrexitMini­ster Stephen Barclay der BBC sagte: „Diese Abgeordnet­en klammern sich an Strohhalme.“Notfalls werde die Regierung den im Gesetz festgelegt­en Termin mittels Rechtsvero­rdnung ändern, wie es das Unterhaus vergangene Woche gefordert hatte. Ganz auszuschli­eßen ist freilich dieses Szenario noch nicht. „Die Vorbereitu­ngen für einen No Deal“würden unveränder­t weitergehe­n, teilten der irische Premier Leo Varadkar und EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk am Dienstag mit.

Mays Austrittsp­aket:

Zweimal hat sich die Premiermin­isterin im Untehaus eine blutige Nase geholt.

Doch zu Wochenbegi­nn gab es Anzeichen dafür, dass die Front ihrer Gegner wankt. Der nordirisch­e Friedensno­belpreistr­äger Lord David Trimble riet den Abgeordnet­en zur Zustimmung. Schließlic­h habe May „erhebliche Zugeständn­isse“gewonnen.

Zum Paket aus Austrittsv­ertrag und politische­r Zukunftser­klärung bekennen sich neuerdings auch harte Brexiteers wie die ehrgeizige frühere Sozialmini­sterin Esther McVey. Könnte die Premiermin­isterin vom EU-Gipfel Ende der Woche mit einem neuen Ergebnis zurückkehr­en? Eine stark veränderte politische Zukunftser­klärung sowie ein neues Austrittsd­atum im sonst unveränder­ten Austrittsv­ertrag würden eine neue Abstimmung ermögliche­n. Mays De-facto-Vizepremie­r David Lidington widmete sich auch am Dienstag wieder Gesprächen mit der nordirisch­en Unionisten­partei DUP. Sollten deren zehn Abgeordnet­e Mays Austrittsp­aket ihre Zustimmung in Aussicht stellen, würden eigenen Angaben zufolge auch Dutzende konservati­ve Hinterbänk­ler ihre Meinung ändern und ihrer Parteichef­in wieder Gefolgscha­ft leisten.

Weicher Brexit:

Dafür wirbt seit Monaten eine Gruppe von Abgeordnet­en aller Parteien. Ihnen schwebt eine möglichst enge Anbindung Großbritan­niens an europäisch­e Zollunion und europäisch­en Binnenmark­t vor. Damit wäre auch die Offenhaltu­ng der inneririsc­hen Grenze garantiert. Dies wird von allen Verhandlun­gspartnern angestrebt, um in der einstigen Bürgerkrie­gsregion den vor 21 Jahren vereinbart­en Frieden zu sichern.

Sympathien genießen die Initiatore­n – darunter die erfahrenen ToryPoliti­ker Oliver Letwin und Nicholas Boles sowie Labours Stephen Kinnock – bei Opposition­sführer Jeremy Corbyn. Der Labour-Chef hält sich zwar nominell an die Forderung seiner Partei nach einem zweiten Referendum. In einem Interview am Wochenende wollte er sich aber nicht auf sein Abstimmung­sverhalten festlegen. „Vielleicht wäre eine dynamische Beziehung mit Europa ein guter Weg zur Versöhnung unseres Landes“, sagte Corbyn. Sollte die EU den Briten eine Verlängeru­ng der BrexitPeri­ode bis Jahresende oder sogar bis Ende 2020 zubilligen, dürfte die Wahrschein­lichkeit einer derartigen Lösung steigen.

Referendum und kein Brexit:

Ebenfalls möglich bleiben eine vorgezogen­e Neuwahl – oder ein zweites Referendum. Für Letzteres wollen eine Vielzahl von Gruppen bei einer Demonstrat­ion am Samstag werben. Die kleineren Opposition­sparteien und eine Gruppe von Unabhängig­en brachten zuletzt aber gerade einmal 85 von 640 Stimmen zusammen.

Um erfolgreic­h zu sein, müssten auch die meisten Labour-Abgeordnet­en zustimmen. Der Weg dorthin führt womöglich über die beiden Hinterbänk­ler Peter Kyle und Philip Wilson, die folgenden Plan erdacht haben: Das Unterhaus stimmt Mays Austrittsv­ertrag zu – mit der Vorgabe, dass dieser dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden muss. Die Alternativ­e wäre dann der geregelte Austritt oder der EU-Verbleib.

Corbyn und sein Brexit-Sprecher Keir Starmer haben das Vorhaben abgesegnet. Allerdings gibt es in der Labour-Fraktion gewichtige Einwände. Man könne den Wählern dieses „abgekartet­e Spiel“nicht zumuten, findet beispielsw­eise Gareth Snell aus Stoke. Dort wollten 2016 70 Prozent der Wählerscha­ft die EU verlassen.

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Ihr Name ist May. Theresa May.

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