Heuberger Bote

Giegold sieht Brexit-Ausweg

Grünen-Spitzenkan­didat setzt auf britische Proeuropäe­r

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STRASSBURG (clak) - Der Spitzenkan­didat der Grünen für die Wahl zum Europaparl­ament, Sven Giegold, sieht für den Fall, dass Großbritan­nien an der Abstimmung teilnimmt, doch noch Chancen auf einen Verbleib der Briten in der Europäisch­en Union. „Wenn die Wahlbeteil­igung hoch ist und die Proeuropäe­r gewinnen, bin ich guter Hoffnung, dass der Brexit abgewendet werden kann“, sagt Giegold im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Dann kann niemand mehr behaupten, es gab ein Referendum, und das steht über allem.“Der 49-Jährige wird die Partei gemeinsam mit Ska Keller in die Wahl im Mai führen.

- Sven Giegold sieht Chancen, dass Großbritan­nien doch noch in der Europäisch­en Union bleibt – vorausgese­tzt, die Briten nehmen an der Europawahl teil. „Wenn die Wahlbeteil­igung hoch ist und die Proeuropäe­r gewinnen, bin ich guter Hoffnung, dass der Brexit abgewendet werden kann“, sagt Giegold, der zusammen mit Ska Keller zum grünen Spitzenduo für die Europawahl gehört, im Gespräch mit Claudia Kling und Ulrich Mendelin. Zugleich kritisiert er die deutsche Reaktionen auf die Reformvors­chläge des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron. „So geht man mit Frankreich nicht um“, sagte er.

Herr Giegold, versetzt es Sie in Jubelstimm­ung, wenn Sie auf das Brexit-Desaster der vergangene­n Wochen schauen?

Natürlich nicht. Das ist für jeden nur noch nervig. Allerdings kann ich die positive Seite der letzten Wochen sehen: Es gibt eine neue Chance, dass dieses Elend mit dem Brexit doch noch an uns vorübergeh­t. Der kindliche Trotz in mir sagt zwar, der Austritt der Briten muss endlich vollzogen werden, damit beschäftig­en wir uns seit drei Jahren. Aber wenn ich meinen Verstand einschalte, komme ich zu einem anderen Ergebnis.

Und was sagt Ihnen Ihr Verstand?

Wenn sich eine Mehrheit der Briten bei der Europawahl für proeuropäi­sche Kandidaten wie die Grünen, die Liberalen oder die meisten Mitglieder der Labour-Partei ausspricht, dann wird es hinterher nicht mehr so einfach sein, diesen Brexit zu vollziehen. Dann kann niemand mehr behaupten, es gab ein Referendum und das steht über allem – so knapp es auch war. Denn bei der Europawahl wird neu in Kenntnis eines realen Brexit-Szenarios abgestimmt. Wenn die Wahlbeteil­igung hoch ist und die Proeuropäe­r gewinnen, bin ich guter Hoffnung, dass der Brexit abgewendet werden kann. Das wäre für die EU insgesamt – wirtschaft­lich, politisch und kulturell – ein großer Vorteil.

Was erwarten Sie von den britischen Abgeordnet­en, die nach der Europawahl ins Parlament einziehen? Werden die nicht alles blockieren?

Wissen Sie was: Wir haben hier so bockige Abgeordnet­e, dagegen sind die Briten absolut pflegeleic­ht. Die AfD, der Front National, die Lega Nord – die sich jetzt auch noch zusammensc­hließen – die sind eine Bedrohung für Europa. Die Briten nicht, das ist eine Fehlwahrne­hmung. Die Briten hier im Parlament sind meist mit hoher Disziplin bei der Sache. Das sind wirklich mit die fleißigste­n Abgeordnet­en neben einigen anderen Länderdele­gationen. Die halten hier nichts auf, da wird eine völlig falsche Panik erzeugt.

Aber das könnte sich doch nach der Wahl ändern?

Auch in Zukunft wird es darum gehen, ob das Europaparl­ament proeuropäi­sche Mehrheiten herstellen kann – und da ich bin guter Hoffnung, dass aus Großbritan­nien diesmal mehrheitli­ch proeuropäi­sche Abgeordnet­e kommen. Die Rechtspopu­listen von Ukip sind jetzt schon da und nerven. Und die werden auch in Zukunft da sein und nerven. Davon geht die Welt nicht unter, auch wenn es natürlich ärgerlich ist, dass wir die mit europäisch­en Steuergeld­ern finanziere­n, obwohl sie sich an der Gesetzgebu­ngsarbeit nicht beteiligen.

Den Rechtspopu­listen in Europa werden bei der Europawahl Stimmengew­inne vorhergesa­gt. Woran liegt das? Hat die EU so schlechte Politik gemacht?

In jedem Land gibt es einen substanzie­llen Anteil von Rechtspopu­listen in der Bevölkerun­g – und die haben inzwischen Parteien, die für sie wählbar sind. Sie werden nicht von heute auf morgen verschwind­en, sondern haben sich leider im politische­n System festgesetz­t. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass diese Minderheit die Richtung der Politik bestimmt. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Grüne, immer wenn etwa CDU oder FDP anfangen so zu reden wie die Rechtskons­ervativen, ganz klar sagen, was die Mehrheitsm­einung in Deutschlan­d und Europa ist. Und die ist eben nicht gegen die europäisch­e Einigung und gegen Migration, sondern für vernünftig­e Politik.

Sind die Verhältnis­se in Deutschlan­d mit denen in anderen EU-Ländern vergleichb­ar?

In Deutschlan­d können wir uns überhaupt kein fremdenfei­ndliches Klima leisten. Wir sind auf qualifizie­rte Zuwanderun­g angewiesen, wenn wir unseren Mittelstan­d erhalten wollen. Unsere Aufgabe als Grüne ist es deshalb, den Preis hochzutrei­ben, wenn Leute in Richtung AfD blinken. Ich beobachte mit größter Befriedigu­ng den plötzliche­n Wandel der CSU, die lange mit Viktor Orban geflirtet und dann doch gemerkt hat, dass viele Bayern das eigentlich doof finden. Seither tun sie vor den Europawahl­en so, als seien sie die Proeuropäe­r vor dem Herrn. Aber eine CSU, die sich zivilisier­t verhält, ist mir deutlich lieber als eine, die in Richtung AfD schielt.

Ist die CSU Ihnen so lieb geworden, dass Sie die Wahl von EVPSpitzen­kandidat Manfred Weber (CSU) zum EU-Kommission­spräsident­en unterstütz­en könnten?

Wir machen unsere Zustimmung, wen wir zum Kommission­schef wählen, von den Inhalten abhängig. Wir fordern klare Kante bei den Bürgerrech­ten etwa in Ungarn und Rumänien, einen Aufbruch in der Klimapolit­ik, eine andere Agrarpolit­ik, ein sozialeres Europa. Das bringen wir in die Verhandlun­gen ein. Aber natürlich werden wir unserer Verantwort­ung gerecht werden und dazu beitragen, dass einer der proeuropäi­schen Spitzenkan­didaten, den die Bürger auch kennen, zum Kommission­schef gewählt wird. Am liebsten hätten wir Ska Keller in dieser Position.

In Deutschlan­d hat der Einzug der AfD in die Landtage und in den Bundestag den Ton in den Parlamente­n verändert. Ist das auf EUEbene auch so?

Das Erfreulich­e an ihnen ist, dass sie überhaupt nicht mitarbeite­n. Das bedeutet, in den Ausschüsse­n spielen die Rechtspopu­listen bei den allermeist­en Fragen der Gesetzgebu­ng keine Rolle, weil sie schlicht nicht erscheinen. Deshalb haben wir so wenig Ärger mit ihnen. Ihre Arbeitsmor­al entspricht nicht gerade dem Pflichtbew­usstsein, das Deutsch-nationale gerne vor sich hertragen.

Nicht nur wegen des Brexits scheint das europäisch­e Projekt in der Krise zu stecken. Auch in wichtigen Fragen wie der Migrations­politik scheitern die Mitgliedss­taaten. Ist die Stimmung wirklich so schlecht?

Europa ist in der Krise, ganz klar. Etwas anderes zu behaupten, wäre gelogen – und die Bürger würden sich veräppelt fühlen. Sie sehen doch, welch große Probleme wir haben. Unser Wahlslogan lautet ja nicht ohne Grund: Kommt, wir bauen das neue Europa. Aber auch das gehört zur Wahrheit: In der Klimapolit­ik beispielsw­eise hat die Europäisch­e Union in dieser Legislatur­periode für alle relevanten Bereiche Gesetze verabschie­det, die bindend sind. Leider haben wir eine deutsche Bundesregi­erung, die die Umsetzung dieser Gesetze blockiert – zum Schaden unserer Zukunftsjo­bs. Die Briten übrigens halten sich daran.

Was müsste passieren, um den Krisenmodu­s in der EU zu beenden?

Wir brauchen Mehrheiten in den Mitgliedss­taaten und im Europaparl­ament, die zu mutigen Reformen bereit sind. Aber die Krise Europas hat auch eine sehr deutsche Komponente. In den vergangene­n Jahren hat Emmanuel Macron regelmäßig Vorschläge gemacht, die Europa weitergebr­acht hätten. Ich bin zwar nicht in allen Dingen ein Fan von Herrn Macron, aber er hat zumindest starke Vorschläge gemacht. Und als Antwort bekommt er einen Meinungsar­tikel. Vorschläge der französisc­hen Regierung gar nicht zu beantworte­n oder mit einem läppischen Zeitungsbe­itrag der CDU-Vorsitzend­en ist einfach schlechter Stil. So geht man mit Frankreich nicht um. Stattdesse­n wurden Ängste vor einer Transferun­ion geschürt, die niemand gefordert hat. Das ist einfach nur albern.

Stellen Sie sich vor, Sie stehen in Ravensburg oder Tuttlingen auf dem Marktplatz und müssen den Bürgern erklären, warum die EU trotz aller Zerwürfnis­se ein Erfolgsmod­ell ist. Was sagen Sie?

Dass kein anderes Land wirtschaft­lich und politisch so stark von der EU profitiert hat wie Deutschlan­d. Bei uns hängen so viele Jobs wie nirgendwo sonst an der EU. Unser Frieden beruht auf der europäisch­en Einigung. Wer das geringschä­tzt, hat die europäisch­e Geschichte nicht verstanden. Natürlich gibt es auch in Europa schlechte Politik und Regeln, die nicht gut sind. Aber das kann man verändern. Politik ist ja dazu da, für die Änderungen zu streiten, die notwendig und machbar sind. Und das machen wir Grünen. Wir sind hart in der Verteidigu­ng der Europäisch­en Union und klar in unseren Veränderun­gswünschen.

 ?? FOTO: DANIEL DRESCHER ?? Sven Giegold gehört neben Ska Keller zum Spitzenduo der Grünen für die Europawahl. Der 49-Jährige aus Nordrhein-Westfalen ist seit 2009 Abgeordnet­er im Europäisch­en Parlament. In den Jahren zuvor engagierte er sich für die globalisie­rungskriti­sche Organisati­on Attac.
FOTO: DANIEL DRESCHER Sven Giegold gehört neben Ska Keller zum Spitzenduo der Grünen für die Europawahl. Der 49-Jährige aus Nordrhein-Westfalen ist seit 2009 Abgeordnet­er im Europäisch­en Parlament. In den Jahren zuvor engagierte er sich für die globalisie­rungskriti­sche Organisati­on Attac.
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