Der Leidensweg der Christen im Nordirak führt ins Ungewisse
Keine Arbeit, keine Sicherheit, keine Perspektive – 2000 Jahre lebendigen Christentums könnten bald zu Ende sein
Loay Tohe hat in seinem Leben vieles richtig gemacht: Nach einer technischen Ausbildung arbeitete der 32-jährige Christ aus dem Nordirak in einem Reisebüro. Eine eigene Existenz wollte er sich aufbauen. Und fühlte sich sicher. Bis zum 6. August 2014: An jenem Tag überfiel die Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS) Tohes Heimatdorf Telskuf, eine kleine, seit Jahrhunderten christlich geprägte Stadt in der Ninive-Ebene, etwa 20 Kilometer nördlich von Mossul. Die Christen wurden vertrieben. Nach dem militärischen Sieg über den IS kehren die Christen, die noch im Irak sind, nur zögerlich in ihre Dörfer und Städte zurück: „Keine Sicherheit, keine Jobs, keine Perspektive“, sagt Tohe. Mittlerweile ist er verheiratet, zusammen mit seiner Frau Mayada Hedo und dem zweijährigen Sohn Jason lebt er wieder in Telskuf: „Aber ich weiß nicht, wie lange noch.“
Die meisten irakischen Christen sind Angehörige der chaldäischen Kirche, einer urchristlichen Glaubensgemeinschaft. Der Irak gilt bis heute als ihr Zentrum. Die chaldäische Kirche geht auf die ersten christlichen Gemeinden zurück, die vor fast 2000 Jahren in Mesopotamien – dem heutigen Irak – entstanden. Nach Jahren der Isolierung unterstellten sie sich im 17. Jahrhundert dem Papst und wurden Teil der römisch-katholischen Kirche.
„Wir Christen fühlen uns als Inhaber des Irak“, bekräftigt Janan Husaine, der Vorsitzende der Partei der chaldäischen Christen und Abgeordnete im kurdischen Regionalparlament in Erbil: „Wir haben das Land gegründet, unser Volk spricht die Sprache von Jesus!“
Die christlichen Gemeinschaften leisten seit Jahrhunderten im Irak einen hohen Beitrag in den Bereichen Bildung, medizinische Versorgung, Versöhnung und diakonische Dienste. Aufbauend auf die lange Tradition christlicher Klöster und daran angeschlossener sozialer Einrichtungen, sind christliche Schulen und Krankenhäuser in der Region bis in die Gegenwart hinein für ihren hohen Standard bekannt.
Doch das christliche Leben mit seiner Tradition könnte bald zu Ende gehen, dann Geschichte sein: „Bis 2003 lebten 1,5 Millionen Christen im Irak, heute sind es noch 350 000“, weiß Janan Husaine, „2014 waren wir 150 000 Christen allein in der NiniveEbene, mittlerweile sind vielleicht 60 000 oder 70 000 von ihnen zurück.“
Ins kollektive Gedächtnis haben sich jene Tage im Sommer 2014 eingebrannt, als die Dschihadisten kamen. In der nordirakischen Millionenstadt Mossul und der NiniveEbene wurde das Schicksal der irakischen
Christen mit dem arabischen Schriftzeichen „N“besiegelt. Groß und in scharlachroter Farbe malten es IS-Anhänger an Wohnhäuser. Der Buchstabe weist hin auf „Nasara“– Nazarener. So nennen die IS-Dschihadisten Christen.
Das Stigma auf den Häusern war eine Warnung: Verlasst Mossul, konvertiert zum Islam oder zahlt uns Schutzsteuern. Wer sich nicht beugt, muss mit dem Tod rechnen. Die sunnitischen Extremisten hatten Mossul Anfang Juni 2014 eingenommen. Noch bevor sie jedes Haus mit einem „N“beschmiert hatten, setzte ein Massenexodus ein. Es folgten Morde, Misshandlungen, Hinrichtungen, Unterdrückung.
Janan Husaine wie auch Bürgermeister in der Ninive-Ebene, Abgeordnete, Geschäftsleute und Männer wie Loay Tohe berichten so eindrücklich davon, dass dem Zuhörer der Atem stockt. Und immer wieder fällt der Satz: „Alles ist allein deshalb passiert, weil wir Christen sind!“Auf dem Weltverfolgungsindex des christlichen Hilfswerks Open Doors nehmen Syrien und der Irak den dritten und vierten Platz ein. Schlimmer wird dem Index zufolge nur in Nordkorea und Somalia gegen Christen vorgegangen.
Auf der Fahrt von der Provinzhauptstadt Dohuk in die Ninive-Ebene wird der Konflikt deutlich. Wenige Kilometer weiter sind Einheiten der schiitischen Haschd-al-SchabiMilizen stationiert. Gesteuert durch Iran, waren sie im Irak für die Befreiung von Mossul unverzichtbar. Mittlerweile haben sie sich in den zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der Regierung der autonomen Region Kurdistans „umstrittenen Gebieten“festgesetzt: „Wenn die Christen einst weg sein sollten, zieht sich ein von den Schiiten beherrschter Bogen von Teheran bis nach Beirut“, warnt der Politiker Janan Husaine.
Vertriebene zieht es zurück
In manche Orte aber zieht es Christen zurück. Der Priester George Jahola aus der Stadt Karakosch beobachtet: „Seit gut einem Jahr kommen immer mehr Menschen zurück, Läden und Restaurants öffnen. Der Alltag hat wieder begonnen – allerdings mit viel weniger Menschen als vor der IS-Invasion.“Gut die Hälfte der Vertriebenen sei zurück, bestätigt auch er. Die größte Herausforderung? „Das ist das Thema Arbeit. So lange die Wiederaufbauarbeiten laufen und wir sie finanzieren können, stehen die Menschen in Lohn und Brot. Es gibt ja genug zu tun. Aber die große Frage ist: Wie können wir gerade den jungen Leuten neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnen?“
Mit einem Job wäre auch Loay Tohe mit seiner kleinen Familie leicht davon zu überzeugen, im Land zu bleiben. In seiner Heimatstadt Telskuf zeigt Tohe zerschossene und zerbombte Häuser, berichtet von Freunden, die dort wohnten und nun im Ausland leben: „1800 Häuser zählt unser Dorf, ein Viertel davon war nach dem Überfall des IS zerstört, 140 Häuser waren total geplündert.“Zusammen mit dem Bürgermeister betrachtet der 32-Jährige eine kleine Schlosserei: Die Maschinen könnten morgen wieder anlaufen: „Doch wer gibt uns Aufträge?“
Priester George Jahola setzt darauf, dass vor allem die Landwirtschaft Jobs schaffen könnte: „Denn sie ist ein großer Wirtschaftsfaktor für die Ninive-Ebene und könnte vielen Menschen Arbeit bieten, zum Beispiel in der Geflügel- und Viehzucht. Die Kämpfer des IS haben jedoch viele Bauernhöfe zerstört.“Ausländische Investoren aber machen sich rar angesichts der ungewissen politischen Lage.
Die Vorgehensweise der Muslime ist subtil: „Wenn Christen die Ninive-Ebene verlassen, versuchen sehr oft Muslime, deren Eigentum zu erwerben“, beschreibt Janan Husaine, der die von der Regierung in Bagdad gewollte demografische Änderung in der Region heftig kritisiert. Diese Tendenz reiche schon bis in die 1980er- und 90er-Jahre zurück.
So war zum Beispiel Telskuf früher eine mehrheitlich christliche Stadt mit 11 000 Einwohnern. Heute leben dort nur noch 20 Prozent Christen. Ähnliche Entwicklungen gibt es im benachbarten Bartella. Dort versuchen Angehörige der ethnischen Gruppe der Schabak immer mehr Gebäude aufzukaufen. Priester George Jahola: „Es fragt sich, woher die Gelder kommen. Die Schabak sind mehrheitlich schiitische Muslime und es bestehen sehr enge Kontakte zu Iran, das sich als eine Art ,Schutzmacht’ der Schiiten versteht. Das ist eine sehr reale Gefahr!“
In diesen Tagen feiern die Christen in ihren Kirchen, die sie nach der Zerstörung wieder hergerichtet haben, Tod und Auferstehung. „Wir finden Kraft im Blick auf die Auferstehung“, sagt Janan Husaine und bittet die Glaubensschwestern und -brüder im Westen um Solidarität. Es gehe um Frieden, um Stabilität im Irak: „Dass Christen hier immer engagiert unterwegs waren und es bleiben wollen, muss in Überlegungen zur zukünftigen Gestaltung der Länder einfließen. Kurz- und langfristig schwächt die Vertreibung der Christen den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“