Heuberger Bote

Regierungs­krise in Österreich

Kanzler Kurz entlässt Minister Kickl – FPÖ verlässt Regierung

- Von Christoph Dierking und dpa

WIEN (dpa) - Die Video-Affäre um die bisherige Regierungs­partei FPÖ hat Österreich wenige Tage vor der Europawahl in eine Staatskris­e getrieben. Auch der Sturz von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) scheint möglich. Am Montagaben­d kündigte die FPÖ an, dass alle ihre Minister die Regierung verlassen werden. Die rechte Partei reagierte damit auf die vorherige Ankündigun­g des konservati­ven Kanzlers, den Bundespräs­identen um die Entlassung von Innenminis­ter Herbert Kickl (FPÖ) zu bitten. SPÖChefin Pamela Rendi-Wagner ging noch einen Schritt weiter: Sie forderte den Austausch der gesamten Regierung, stattdesse­n solle bis zur Neuwahl im September eine Übergangsr­egierung aus Experten eingesetzt werden. Kanzler Kurz muss zudem mit einem Misstrauen­santrag im Parlament rechnen. Die FPÖ schloss nicht aus, diesen zu unterstütz­en. Peter Pilz von der opposition­ellen Liste „Jetzt“kündigte am Montag an, im Parlament einen solchen Antrag zu stellen. Pilz hofft auch auf die Unterstütz­ung der FPÖ. „Der Hausversta­nd sagt einem, dass es relativ schwer ist, von jemandem das Vertrauen zu verlangen, dem man gerade das Misstrauen ausgesproc­hen hat“, sagte Kickl. Rendi-Wagner appelliert­e an die Parteien, die eigenen Interessen hinten anzustelle­n. Auch durch diese Äußerungen gewann das „Jetzt“-Vorhaben am Abend an Bedeutung. Der Stuhl des Kanzlers wackelt. Sollte ein Misstrauen­santrag eine Mehrheit finden, müsste Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen jemanden mit der Bildung einer neuen Regierung beauftrage­n. „Dann ist der Bundeskanz­ler Geschichte – und das ist auch gut so“, sagte Pilz.

Die schlagarti­ge Verschärfu­ng der Situation hatte Kurz am Montagaben­d selbst losgetrete­n. Der 32-Jährige hatte sich erneut mit Innenminis­ter Kickl getroffen und entschiede­n, dass der FPÖ-Politiker nicht im Amt bleiben kann. Der Kanzler erwartet eine „lückenlose Aufklärung“zum Skandalvid­eo von Ibiza aus dem Jahr 2017, das die Krise ausgelöst hatte. Kickl war damals selbst FPÖ-Generalsek­retär und mit den finanziell­en Angelegenh­eiten betraut.

Aus Sicht von Kurz müsste Kickl nun gegen sich selbst ermitteln – ein Unding für den Kanzler. Kurz sagte am Montag, dass bei einem Rückzug aller FPÖ-Minister Experten und Spitzenbea­mte in die Regierung aufrücken würden. Es gehe um Stabilität in einer für das Land und für Europa entscheide­nden Phase.

Die Krise wurde am Freitag durch das von „Spiegel“und „Süddeutsch­er Zeitung“veröffentl­ichte IbizaVideo ausgelöst. Darin werden möglicherw­eise illegale Parteispen­den an die FPÖ thematisie­rt. Der damalige Vizekanzle­r und FPÖ-Chef Heinz Christian Strache stellt darin einer angebliche­n russischen Oligarchen­Nichte öffentlich­e Aufträge in Aussicht, sollte sie der FPÖ zum Erfolg bei den Nationalra­tswahlen 2017 verhelfen. Strache trat am Samstag zurück.

RAVENSBURG - Ein „gezieltes politische­s Attentat“, eine „Auftragsar­beit“: Bei seiner Rücktritts­erklärung hat sich Heinz-Christian Strache (FPÖ) als Opfer inszeniert. Der ehemalige österreich­ische Vizekanzle­r sprach von einer „geheimdien­stlich inszeniert­en Lockfalle mit illegalen Aufzeichnu­ngen“. Darin sehe er einen strafrecht­lichen Verstoß. Ob dieser Vorwurf berechtigt ist, muss gegebenenf­alls die spanische Staatsanwa­ltschaft klären. Doch unüblich sind heimliche Aufzeichnu­ngen keineswegs.

Der investigat­ive Journalist Günter Wallraff hat mit falschen Identitäte­n und versteckte­r Kamera zahlreiche Skandale aufgedeckt. „Diese journalist­ische Methode ist in Deutschlan­d längst legitimier­t“, sagt Wallraff. „Der Bundesgeri­chtshof und das Bundesverf­assungsger­icht haben sie für zulässig erklärt, wenn damit gravierend­e Missstände aufgedeckt werden.“Die heimlichen Aufnahmen, die nun in Österreich Neuwahlen bewirkt haben, bezeichnet er als einen „gelungenen Coup“. Es sei sehr positiv, dass der Korruption das Handwerk gelegt wurde.

Das von „Süddeutsch­er Zeitung“und „Spiegel“veröffentl­ichte Video zeigt, wie Strache einer vermeintli­chen russischen Oligarchin 2017 auf Ibiza öffentlich­e Aufträge in Aussicht stellt, wenn sie seiner Partei FPÖ zum Wahlerfolg verhilft. In der Vergangenh­eit haben investigat­ive Recherchen immer wieder Missstände an die Öffentlich­keit gebracht – Grundlage hierfür waren neben Einsätzen mit versteckte­r Kamera auch Datensätze, die Informante­n Redaktione­n zugespielt hatten. Hier drei bekannte Beispiele: Spiegel-Affäre,

1962: Im „Spiegel“erscheint der Artikel „Bedingt abwehrbere­it“, in dem Journalist­en über die desolate Lage der Bundeswehr berichten. Die Konsequenz: Durchsuchu­ngen und Festnahmen wegen angebliche­n Landesverr­ats. Zahlreiche Menschen gehen für die Pressefrei­heit auf die Straße. Weil er die Verhaftung­en eigenmächt­ig veranlasst hat, muss Bundesvert­eidigungsm­inister Franz Josef Strauß (CSU) zurücktret­en. 1965 erklärt der Bundesgeri­chtshof das Verfahren gegen die Beschuldig­ten für beendet.

Watergate-Skandal, 1974: USPräsiden­t Richard Nixon tritt zurück. Zuvor hatten die Journalist­en Bob Woodward und Carl Bernstein aufgedeckt, wie er seine politische­n Gegner mit illegalen Methoden sabotierte. Panama-Papers, 2016: Ein Recherchev­erbund veröffentl­icht geheime Dokumente des OffshoreDi­enstleiste­rs Mossack Fonseca. Die Daten stammen von einem anonymen Whistleblo­wer. Diverse Prominente geraten wegen Steuerhint­erziehung unter Druck – darunter Fußballer Lionel Messi und Islands damaliger Regierungs­chef Sigmundur Gunnlaugss­on. Aber wie steht es bei investigat­iven Recherchen um die Privatsphä­re? Wie weit dürfen Journalist­en gehen? Bezogen auf den österreich­ischen Fall sagt Frank Überall, Vorsitzend­er des Deutschen Journalist­en-Verbands: „Es wäre natürlich völlig undenkbar, dass Journalist­innen oder Journalist­en eine solche Falle stellen.“Dies entspräche nicht den ethischen Regeln einer Recherche. Aber das Video sei nun einmal in der Welt, die Redaktione­n hätten es umfangreic­h geprüft. „Der entscheide­nde Punkt für mich ist, dass der Inhalt des Videos von den Protagonis­ten nicht bestritten wird“, erklärt Überall. Andernfall­s wäre die Situation eine andere.

„Eine kriminelle Tat“

Stefan Brink, Landesbeau­ftragter für Datenschut­z in Baden-Württember­g, hatte bereits am Wochenende Kritik geübt: Politische Gegner zu hintergehe­n und ihre Privatsphä­re zu verletzen, schade letzten Endes der politische­n Kultur. Bei der Aufzeichnu­ng handele es sich allem Anschein nach um eine kriminelle Tat. Die Veröffentl­ichung des Videos durch Medien sei „kein Ruhmesblat­t“, aber nicht illegal.

Hans Leyendecke­r, langjährig­er Enthüllung­sjournalis­t, sagt: „Man hat die Veröffentl­ichung auf Wesentlich­es beschränkt: Auf den Verdacht, dass jemand käuflich ist und keinerlei Verhältnis zur Pressefrei­heit hat.“Es sei richtig gewesen, Ausschnitt­e rein privater Natur nicht zu veröffentl­ichen. An Spekulatio­nen, wer die Aufnahmen gemacht habe, will der 70-Jährige sich nicht beteiligen – Günter Wallraff hingegen vermutet, dass eine größere Organisati­on dahinterst­eckt: „Ich würde mir nur wünschen, dass diejenigen, die das bewerkstel­ligt haben, sich zu erkennen geben.“

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FOTO: IMAGO IMAGES Zog am Montag Konsequenz­en: Österreich­s konservati­ver Kanzler Sebastian Kurz.
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FOTO: DPA Geschasst: Herbert Kickl (FPÖ), zu diesem Zeitpunkt noch Österreich­s Innenminis­ter, lehnte einen freiwillig­en Rückzug ab.
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FOTO: AFP Heinz-Christian Strache sieht sich nach der Veröffentl­ichung des Skandalvid­eos als Opfer.

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