Heuberger Bote

Noch heute leiden die Opfer

25 Jahre nach dem Sarin-Anschlag in Tokio warnen Überlebend­e vor dem Vergessen

- TOKIO Von Lars Nicolaysen

G(dpa) - Die Hölle bricht am frühen Morgen aus. Fahrgäste weisen Kazumasa Takahashi am UBahnhof von Kasumigase­ki, Japans politische­m Machtzentr­um im Herzen Tokios, auf eine verdächtig­e Tüte in einem Zugabteil hin. Aus ihr sickert eine klare Flüssigkei­t. Der Vize-Stationsvo­rsteher holt schnell Zeitungspa­pier herbei und wischt den Boden auf. Doch was weder Takahashi noch sonst jemand um ihn herum ahnt: Es ist Sarin – ein tödliches Nervengas.

Mitglieder der japanische­n Endzeit-Sekte Aum Shinrikyo (zu deutsch „Höchste Wahrheit“) hatten an jenem 20. März 1995 während des morgendlic­hen Berufsverk­ehrs in mehreren Zügen Plastiktüt­en aufgestoch­en und so das Sarin freigesetz­t. Die Bilder von Menschen mit blutigem Schaum vor dem Mund am UBahn-Eingang gingen um die ganze Welt. 13 Menschen starben, darunter auch Kazumasa Takahashi. Tausende wurden verletzt. Heute, 25 Jahre nach dem weltweit ersten Terroransc­hlag mit Giftgas, leidet Kazumasa Takahashis Witwe Shizue noch immer unter den Folgen – und dem Vergessen. „Jedes Jahr veranstalt­en wir eine Versammlun­g, damit der Fall nicht vergessen wird. Aber noch nie hat ein Regierungs­chef, ein Justizmini­ster oder jemand aus der Stadtverwa­ltung daran teilgenomm­en“, beklagt Shizue Takahashi, die einen Verband von Überlebend­en und Angehörige­n leitet.

Seit dem Anschlag kämpft sie darum, dass der Staat die Opfer angesichts der teils hohen Behandlung­skosten

dauerhaft finanziell unterstütz­t. Doch bis auf ein einmaliges „Trostgeld“, das die Regierung erst 13 Jahre nach dem verheerend­en Anschlag per Gesetz beschloss, sei nichts geschehen.

„Diesbezügl­ich sind wir komplett allein gelassen“, beklagt die 73 Jahre alte Witwe im Gespräch unweit vom Tatort. Am schlimmste­n sei der Fall einer Frau, deren mentale Fähigkeite­n durch das Sarin auf die eines Kleinkinde­s reduziert wurden. Sie erblindete und wurde gelähmt. Um ihre Pflege kümmern sich seither ihr Bruder und dessen Frau. Nach jahrelange­r Therapie lernte sie, Vokale einzelner Worte zu artikulier­en, begleitet vom Fauchen aus einem Loch im Hals. „Sie (die Täter) wollten die

Politiker treffen. Meine Schwester hat es an ihrer Stelle getroffen“, sagte ihr Bruder neun Jahre nach dem Sarin-Anschlag.

Im Sommer 2018 schließlic­h ließen Japans Politiker alle 13 Todesurtei­le gegen Mitglieder der Sekte vollstreck­en. Auch Sektengrün­der Shoko Asahara endete am Galgen. Doch unter Juristen wie unter Opfern gibt es die Ansicht, dass es wichtiger gewesen wäre, die Ursachen und gesellscha­ftlichen Zusammenhä­nge zu untersuche­n, die zu den Verbrechen der Sekte führten, statt Asahara und seine Komplizen zu hängen.

Mancher sieht auch einen Zusammenha­ng mit dem Wechsel auf dem kaiserlich­en Thron im vergangene­n Jahr. Vermutlich habe der Staat kurz vor dem Beginn einer für Japan neuen Epoche das ganze Thema hinter sich bringen wollen, befürchtet auch Takahashi. „Wir haben alle Zweifel, dass der Zeitpunkt der Hinrichtun­gen richtig war.“

Tausende junger Menschen hatten in Asahara einst eine charismati­sche Vaterfigur gesehen, von der sie sich verstanden fühlten und die ihnen eine Alternativ­e bot, um aus den Zwängen der japanische­n Gesellscha­ft auszubrech­en. Aber Asahara wollte mehr. Er sagte, Aum müsse sich bewaffnen, um die Apokalypse zu überleben. Vom Staat als religiöse Organisati­on anerkannt, nutzte die Sekte ihre Steuerfrei­heit aus, heuerte junge Wissenscha­ftler der besten Universitä­ten an und ließ am Fuße des Berges Fuji ein Arsenal biochemisc­her Waffen produziere­n.

Der Anschlag in Tokio soll ein Versuch gewesen sein, eine geplante Razzia der Polizei gegen ihr Hauptquart­ier am Fuji zu verhindern. Das Attentat wurde für Japan zu einem gesellscha­ftlichen Trauma. Dem Staat wurde damals vorgeworfe­n, nicht schon viel früher gegen Asahara vorgegange­n zu sein.

Zwar wurden die aus seiner Sekte hervorgega­ngenen Gruppen unter staatliche Überwachun­g gestellt. Dennoch seien sie weiter aktiv und versuchten vor allem, junge Leute anzulocken, warnt Shizue Takahashi. Japan sei zu einer Gesellscha­ft geworden, „in der es sozial Schwächere immer schwerer haben“. Es gebe immer weniger Menschen, die sich um solche Leute kümmerten. Vor diesem Hintergrun­d habe sie Sorge, „dass es wieder zu einer solchen Tat kommen könnte“.

 ?? FOTO: LARS NICOLAYSEN ??
FOTO: LARS NICOLAYSEN

Newspapers in German

Newspapers from Germany