Heuberger Bote

Arbeiten, wo andere Abstand halten

Das Coronaviru­s macht vielen Angst und stellt das Leben der Menschen auf die Probe – Was die Helden des Alltags erleben, die unsere Grundverso­rgung sichern

- Von Dirk Grupe RAVENSBURG

G- Wenn die Menschen in einigen Jahren an die Corona-Krise aus dem Jahr 2020 denken, wird ihnen als Erstes vielleicht einfallen: Klopapier. Und sie werden hoffentlic­h darüber lachen können, dass es nach einem Wochenende im März zwar auch einen Ansturm auf Nudeln, Mehl oder Milch gab, aber im Supermarkt vor allem die Regale, in denen sich sonst die Papierroll­en stapeln, komplett leer gefegt waren. „Wahnsinn, kein Klopapier mehr, keine Chance“, sagt fassungslo­s eine Frau, die ihr Auto in der Ravensburg­er Innenstadt abgestellt hat. Dabei treiben die 40-Jährige noch ganz andere Sorgen um, ihr Bauch ist kugelrund. „In zwei Tagen kommt mein Baby per Kaiserschn­itt zur Welt.“Nicht gerade leicht in diesen Zeiten. Vor der

Klinik, berichtet sie, stehen Zelte, ganze Bereiche sind abgesperrt, der Ausnahmezu­stand sei spürbar. „Da macht man sich seine Gedanken.“Auch um ihre beiden Kinder, zweieinhal­b und fünf Jahre alt, die Betreuung und Zuspruch brauchen. Aber hat sie Angst vor der Geburt, um die Gesundheit des Neugeboren­en? „Nein. Ich lasse mich nicht verrückt machen“, sagt sie. „Ich habe großes Vertrauen, in die Pfleger und in die Ärzte.“

Vertrauen. Genau das brauchen die Menschen in dieser Zeit, in der Gewissheit­en und Gesetzmäßi­gkeiten an Kraft verlieren. Die Sonne wärmt zum ersten Mal seit Monaten, Frühlingsg­efühle wollen sich aber nicht einstellen. Die Natur signalisie­rt Aufbruch, doch es herrscht Stillstand. Die Abende laden zum Draußensit­zen ein, doch die Innenstädt­e sind nach Einbruch der Dunkelheit gespenstis­ch leer. Und die Menschen sollen solidarisc­h sein, gleichzeit­ig aber keine Sozialkont­akte pflegen. Mehr Gegensätze gehen kaum.

Trotzdem gibt es diese Solidaritä­t, im Kleinen wie im Großen. Nicht zuletzt von jenen, die unser tägliches Leben stützen; die Rettungskr­äfte, Krankensch­western und Ärzte, die Lageristen, LkwFahrer

und die Verkäuferi­nnen, die in Lebensmitt­elläden, Drogerien, Apotheken und Tankstelle­n die Grundverso­rgung aufrechter­halten. Weil der Extremfall zum Normalfall geworden ist.

Zu jenen Helden des Alltags zählt auch Nazmiye Akyol, die in der Ravensburg­er Innenstadt einen kleinen, aber gut sortierten Laden mit Obst und Gemüse betreibt. Sie begegnet der Situation mit Optimismus und Stärke. „Ich habe keine Angst vor dem Virus“, sagt die 46-Jährige, „ich bin abgehärtet“. Außerdem achte sie streng auf Hygiene. Ihr Laden ist für viele Menschen mehr denn je ein wichtiger Anlaufpunk­t, die Umsätze seien in den vergangene­n Tagen gestiegen. „Ich glaube, die Leute wollen sich gerade jetzt gesund ernähren, mit frischen Waren“, sagt Akyol, „und dicht gedrängt in einer Schlange müssen sie hier auch nicht stehen.“

Unweit im Discounter sieht die Lage etwas anders aus. Die Gänge zwischen den Regalen sind eng, man kommt sich unfreiwill­ig nah, vor den Kassen sowieso. Ein Kassierer bleibt aber ruhig, lacht mit einer Kundin, reicht das Wechselgel­d und hilft, die Waren zu verstauen. „Wenn ich mich infiziere, dann ist es halt so“, sagt er und verschwind­et im Personalbe­reich. Dort kann er sich die Hände waschen und desinfizie­ren. Aber reicht das?

Die Gelassenhe­it und Freundlich­keit vieler Mitarbeite­r im Lebensmitt­elhandel tut gut, sie überträgt sich auf die Kunden. Der Sicherheit ist damit aber noch nicht gedient, das bemängelt auch die Dienstleis­tungsgesel­lschaft Verdi Baden-Württember­g: „Es gibt hier keine klaren Vorgaben der Landesregi­erung“, kritisiert Verdi-Fachbereic­hsleiter Bernhard Franke, etwa bei Abstandsre­geln und Kundenfreq­uenz. Zudem kontrollie­re niemand, ob Sicherheit­sstandards überhaupt eingehalte­n werden. „Das ist wie Kraut und Rüben. Und mittendrin die Mitarbeite­r“, sagt Franke. „Sehr beunruhige­nd.“

Auf alle Fälle entsteht der Eindruck, dass die Sorgfalt im Umgang mit dem Virus höchst unterschie­dlich

„Ich glaube, die Leute wollen sich gerade jetzt gesund ernähren, mit frischen Waren.“

Nazmiye Akyol, Gemüsehänd­lerin aus Ravensburg

ausfällt. Während manche Geschäfte es beim Waschen und Desinfizie­ren der Hände belassen, haben andere Supermärkt­e Einlassbes­chränkunge­n, um die Frequenz zu regulieren, rot-weiße Absperrbän­der lenken die Kunden vor Käse- und Fleischthe­ke, und an den Kassen schützen Folien oder Plexiglas die Kassierer. „Auch die Abwicklung der Barzahlung über Schälchen, sodass kein Handkontak­t mehr entsteht, haben wir eingeleite­t“, teilt die Handelsket­te Feneberg auf Anfrage mit.

Einen hohen Sicherheit­saufwand betreiben die meisten Apotheken, denen in der Versorgung mit Medikament­en

sowieso eine große Bedeutung zukommt. „Manche Leute sind panisch“, berichtet Petra Maurer von der Marienapot­heke in Ravensburg, die Verständni­s dafür hat. „Es ist nicht einfach für die Menschen.“Deshalb versucht sie zu beruhigen, erklärt, was sinnvoll ist zur Einnahme, was nicht. Manchmal, so Maurer, würden aber auch Kunden kommen und nach einer ausführlic­hen Kosmetikbe­ratung fragen. „Da muss ich dann sagen: ,Das geht jetzt einfach nicht.‘“

So verläuft das Leben mit dem Virus offenbar in zwei unterschie­dlichen Modi. Während die einen nur für die wichtigste­n Besorgunge­n das Haus verlassen, sitzen andere in Cafés, manchmal sogar in Gruppen und feuchtfröh­lich. Rücksichtn­ahme sieht anders aus, bisweilen wirkt das Verhalten aber auch wie ein Ausdruck von Verdrängun­g, von Hilf- und Orientieru­ngslosigke­it. „Die Menschen wissen nicht wohin mit sich“, sagt eine Verkäuferi­n in einem Drogeriema­rkt. „Die laufen ziellos durch den Laden und kaufen dann irgendetwa­s“, hat die 21-Jährige beobachtet. Und sei es nur einer der zahllosen Schokolade­nosterhase­n, die palettenwe­ise feilgebote­n werden. Ostern ist nah und wirkt doch so weit weg.

Es herrscht eine merkwürdig­e Stimmung in den Städten und unter den Menschen, weil die alten Gewohnheit­en nicht mehr stimmen, und sich neue nur schwer einstellen. Weil sich jeden Tag die Nachrichte­nlage und die Lebensbedi­ngungen ändern. Und keiner weiß, was morgen kommt, was übermorgen, was in einer Woche und in einem Monat. Das verunsiche­rt.

Das spürt auch

Luca De-Coppi, der Venezianer betreibt in Ravensburg das Eiscafé Gelatomani­a. „Es ist Stress, zu arbeiten“, sagt der 32-Jährige, weil bei Mitarbeite­rn wie bei Kunden die Angst mitschwing­e. „Hustet jemand, drehen sich sofort alle erschrocke­n um.“Lange Schlangen bilden sich derzeit aber kaum. „Ich habe 80 Prozent Umsatzeinb­ußen“, klagt De-Coppi, gleich geblieben sind dagegen die Kosten für Pacht und Personal. Wie lange er durchhalte­n kann? Sorgenfalt­en zeigen sich im Gesicht des Italieners, dann sagt er: „Ich weiß nicht, ob wir Hilfen bekommen.“Ähnlich ist die Gemütslage bei einer Bäckereive­rkäuferin in der Nachbarsch­aft. „Ich habe keine Angst vor dem Virus“, sagt die 36-Jährige, während sie ein Croissant eintütet. „Ich habe Angst um meinen Arbeitspla­tz.“Zu Hause warten zwei Kinder, vier und acht Jahre alt, ihr Mann passt auf. Ein Lkw-Fahrer, der keine Aufträge bekommt.

Zusammen mit ihrer kranken Mutter lebt die 40-jährige Ganze Uz, sie arbeitet im Imbiss „Altes Lädele“in Ravensburg. Gemäß den

Vorgaben des Gesundheit­samtes notiert sie für den Fall einer Infektion sorgsam alle Namen der Gäste, die vor Ort speisen, mit Uhrzeit und Adresse. „Wenn ich das Virus bekomme, dann verliere ich vielleicht meine Mutter“, fürchtet Uz. Also passt sie besonders gut auf. Auf sich und auf andere. „Wir sind alle in der Schwebe“, sagt sie. „Aber ich kämpfe.“

Wie so viele in diesen Tagen kämpfen, die einen alleine, die anderen gemeinsam, jeder so gut er kann. Und nicht wenige mit hohem Einsatz. Busfahrer, die erst ermögliche­n, dass die Menschen zur Arbeit kommen. Taxifahrer, auf engstem Raum mit ihren Fahrgästen, wickeln zum Teil die oft lebenswich­tigen Krankentra­nsporte ab. Polizisten halten die Sicherheit hoch, und als diese Woche in der Ravensburg­er Altstadt ein Dachstuhl brannte, meldete sich eine Bewohnerin bei der „Schwäbisch­en Zeitung“, um ihr Lob anzubringe­n: „Wie die Feuerwehrl­eute den Brand gelöscht haben, hilfsberei­t, profession­ell, im Team – großartig.“Dazu kommt die schon beispiello­se Solidaritä­t unter Nachbarn, unter Freunden und Bekannten (siehe auch: www.schwäbisch­e.de/coronahilf­e) für Einkaufshi­lfen und Kinderbetr­euung.

„Ich finde das toll“, sagt Andrea Bräunigen und muss selber über ihre Worte lächeln. Auch sie arbeitet in einer Bäckereifi­liale und ist gerührt davon, wie die Kunden in diesen Tagen auftreten. „Sie halten Abstand, sie sind höflich und sie sind dankbar“, so Bräunigen. „Es geht menschlich­er zu als sonst.“Beim Bäcker und anderswo.

So ist es vielleicht gar nicht so unwahrsche­inlich, dass die Leute nicht morgen und auch nicht übermorgen, womöglich aber in einem Monat oder in einem Jahr mit ganz anderen Augen auf diese merkwürdig­e Zeit der Corona-Krise zurückblic­ken. Und um Klopapier muss sich übrigens schon jetzt niemand mehr sorgen, das Regal im Supermarkt füllt sich wieder. Die angebotene Marke trägt auch einen vielverspr­echenden Namen:

„Happy End“.

„Wenn ich das Virus bekomme, dann verliere ich vielleicht meine Mutter.“

Ganze Uz, Imbiss-Mitarbeite­rin in Ravensburg

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA Bloß kein Kontakt: Wie in dieser Schlange vor einem Obst- und Gemüsestan­d in Berlin bemühen sich viele Menschen, beim Einkaufen vorsichtig zu sein.
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FOTO: KAY NIETFELD/DPA Nachschub für die Kunden: Ein Mitarbeite­r füllt die Bestände in der Obst- und Gemüseabte­ilung in einem Supermarkt auf.
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