Arbeiten, wo andere Abstand halten
Das Coronavirus macht vielen Angst und stellt das Leben der Menschen auf die Probe – Was die Helden des Alltags erleben, die unsere Grundversorgung sichern
G- Wenn die Menschen in einigen Jahren an die Corona-Krise aus dem Jahr 2020 denken, wird ihnen als Erstes vielleicht einfallen: Klopapier. Und sie werden hoffentlich darüber lachen können, dass es nach einem Wochenende im März zwar auch einen Ansturm auf Nudeln, Mehl oder Milch gab, aber im Supermarkt vor allem die Regale, in denen sich sonst die Papierrollen stapeln, komplett leer gefegt waren. „Wahnsinn, kein Klopapier mehr, keine Chance“, sagt fassungslos eine Frau, die ihr Auto in der Ravensburger Innenstadt abgestellt hat. Dabei treiben die 40-Jährige noch ganz andere Sorgen um, ihr Bauch ist kugelrund. „In zwei Tagen kommt mein Baby per Kaiserschnitt zur Welt.“Nicht gerade leicht in diesen Zeiten. Vor der
Klinik, berichtet sie, stehen Zelte, ganze Bereiche sind abgesperrt, der Ausnahmezustand sei spürbar. „Da macht man sich seine Gedanken.“Auch um ihre beiden Kinder, zweieinhalb und fünf Jahre alt, die Betreuung und Zuspruch brauchen. Aber hat sie Angst vor der Geburt, um die Gesundheit des Neugeborenen? „Nein. Ich lasse mich nicht verrückt machen“, sagt sie. „Ich habe großes Vertrauen, in die Pfleger und in die Ärzte.“
Vertrauen. Genau das brauchen die Menschen in dieser Zeit, in der Gewissheiten und Gesetzmäßigkeiten an Kraft verlieren. Die Sonne wärmt zum ersten Mal seit Monaten, Frühlingsgefühle wollen sich aber nicht einstellen. Die Natur signalisiert Aufbruch, doch es herrscht Stillstand. Die Abende laden zum Draußensitzen ein, doch die Innenstädte sind nach Einbruch der Dunkelheit gespenstisch leer. Und die Menschen sollen solidarisch sein, gleichzeitig aber keine Sozialkontakte pflegen. Mehr Gegensätze gehen kaum.
Trotzdem gibt es diese Solidarität, im Kleinen wie im Großen. Nicht zuletzt von jenen, die unser tägliches Leben stützen; die Rettungskräfte, Krankenschwestern und Ärzte, die Lageristen, LkwFahrer
und die Verkäuferinnen, die in Lebensmittelläden, Drogerien, Apotheken und Tankstellen die Grundversorgung aufrechterhalten. Weil der Extremfall zum Normalfall geworden ist.
Zu jenen Helden des Alltags zählt auch Nazmiye Akyol, die in der Ravensburger Innenstadt einen kleinen, aber gut sortierten Laden mit Obst und Gemüse betreibt. Sie begegnet der Situation mit Optimismus und Stärke. „Ich habe keine Angst vor dem Virus“, sagt die 46-Jährige, „ich bin abgehärtet“. Außerdem achte sie streng auf Hygiene. Ihr Laden ist für viele Menschen mehr denn je ein wichtiger Anlaufpunkt, die Umsätze seien in den vergangenen Tagen gestiegen. „Ich glaube, die Leute wollen sich gerade jetzt gesund ernähren, mit frischen Waren“, sagt Akyol, „und dicht gedrängt in einer Schlange müssen sie hier auch nicht stehen.“
Unweit im Discounter sieht die Lage etwas anders aus. Die Gänge zwischen den Regalen sind eng, man kommt sich unfreiwillig nah, vor den Kassen sowieso. Ein Kassierer bleibt aber ruhig, lacht mit einer Kundin, reicht das Wechselgeld und hilft, die Waren zu verstauen. „Wenn ich mich infiziere, dann ist es halt so“, sagt er und verschwindet im Personalbereich. Dort kann er sich die Hände waschen und desinfizieren. Aber reicht das?
Die Gelassenheit und Freundlichkeit vieler Mitarbeiter im Lebensmittelhandel tut gut, sie überträgt sich auf die Kunden. Der Sicherheit ist damit aber noch nicht gedient, das bemängelt auch die Dienstleistungsgesellschaft Verdi Baden-Württemberg: „Es gibt hier keine klaren Vorgaben der Landesregierung“, kritisiert Verdi-Fachbereichsleiter Bernhard Franke, etwa bei Abstandsregeln und Kundenfrequenz. Zudem kontrolliere niemand, ob Sicherheitsstandards überhaupt eingehalten werden. „Das ist wie Kraut und Rüben. Und mittendrin die Mitarbeiter“, sagt Franke. „Sehr beunruhigend.“
Auf alle Fälle entsteht der Eindruck, dass die Sorgfalt im Umgang mit dem Virus höchst unterschiedlich
„Ich glaube, die Leute wollen sich gerade jetzt gesund ernähren, mit frischen Waren.“
Nazmiye Akyol, Gemüsehändlerin aus Ravensburg
ausfällt. Während manche Geschäfte es beim Waschen und Desinfizieren der Hände belassen, haben andere Supermärkte Einlassbeschränkungen, um die Frequenz zu regulieren, rot-weiße Absperrbänder lenken die Kunden vor Käse- und Fleischtheke, und an den Kassen schützen Folien oder Plexiglas die Kassierer. „Auch die Abwicklung der Barzahlung über Schälchen, sodass kein Handkontakt mehr entsteht, haben wir eingeleitet“, teilt die Handelskette Feneberg auf Anfrage mit.
Einen hohen Sicherheitsaufwand betreiben die meisten Apotheken, denen in der Versorgung mit Medikamenten
sowieso eine große Bedeutung zukommt. „Manche Leute sind panisch“, berichtet Petra Maurer von der Marienapotheke in Ravensburg, die Verständnis dafür hat. „Es ist nicht einfach für die Menschen.“Deshalb versucht sie zu beruhigen, erklärt, was sinnvoll ist zur Einnahme, was nicht. Manchmal, so Maurer, würden aber auch Kunden kommen und nach einer ausführlichen Kosmetikberatung fragen. „Da muss ich dann sagen: ,Das geht jetzt einfach nicht.‘“
So verläuft das Leben mit dem Virus offenbar in zwei unterschiedlichen Modi. Während die einen nur für die wichtigsten Besorgungen das Haus verlassen, sitzen andere in Cafés, manchmal sogar in Gruppen und feuchtfröhlich. Rücksichtnahme sieht anders aus, bisweilen wirkt das Verhalten aber auch wie ein Ausdruck von Verdrängung, von Hilf- und Orientierungslosigkeit. „Die Menschen wissen nicht wohin mit sich“, sagt eine Verkäuferin in einem Drogeriemarkt. „Die laufen ziellos durch den Laden und kaufen dann irgendetwas“, hat die 21-Jährige beobachtet. Und sei es nur einer der zahllosen Schokoladenosterhasen, die palettenweise feilgeboten werden. Ostern ist nah und wirkt doch so weit weg.
Es herrscht eine merkwürdige Stimmung in den Städten und unter den Menschen, weil die alten Gewohnheiten nicht mehr stimmen, und sich neue nur schwer einstellen. Weil sich jeden Tag die Nachrichtenlage und die Lebensbedingungen ändern. Und keiner weiß, was morgen kommt, was übermorgen, was in einer Woche und in einem Monat. Das verunsichert.
Das spürt auch
Luca De-Coppi, der Venezianer betreibt in Ravensburg das Eiscafé Gelatomania. „Es ist Stress, zu arbeiten“, sagt der 32-Jährige, weil bei Mitarbeitern wie bei Kunden die Angst mitschwinge. „Hustet jemand, drehen sich sofort alle erschrocken um.“Lange Schlangen bilden sich derzeit aber kaum. „Ich habe 80 Prozent Umsatzeinbußen“, klagt De-Coppi, gleich geblieben sind dagegen die Kosten für Pacht und Personal. Wie lange er durchhalten kann? Sorgenfalten zeigen sich im Gesicht des Italieners, dann sagt er: „Ich weiß nicht, ob wir Hilfen bekommen.“Ähnlich ist die Gemütslage bei einer Bäckereiverkäuferin in der Nachbarschaft. „Ich habe keine Angst vor dem Virus“, sagt die 36-Jährige, während sie ein Croissant eintütet. „Ich habe Angst um meinen Arbeitsplatz.“Zu Hause warten zwei Kinder, vier und acht Jahre alt, ihr Mann passt auf. Ein Lkw-Fahrer, der keine Aufträge bekommt.
Zusammen mit ihrer kranken Mutter lebt die 40-jährige Ganze Uz, sie arbeitet im Imbiss „Altes Lädele“in Ravensburg. Gemäß den
Vorgaben des Gesundheitsamtes notiert sie für den Fall einer Infektion sorgsam alle Namen der Gäste, die vor Ort speisen, mit Uhrzeit und Adresse. „Wenn ich das Virus bekomme, dann verliere ich vielleicht meine Mutter“, fürchtet Uz. Also passt sie besonders gut auf. Auf sich und auf andere. „Wir sind alle in der Schwebe“, sagt sie. „Aber ich kämpfe.“
Wie so viele in diesen Tagen kämpfen, die einen alleine, die anderen gemeinsam, jeder so gut er kann. Und nicht wenige mit hohem Einsatz. Busfahrer, die erst ermöglichen, dass die Menschen zur Arbeit kommen. Taxifahrer, auf engstem Raum mit ihren Fahrgästen, wickeln zum Teil die oft lebenswichtigen Krankentransporte ab. Polizisten halten die Sicherheit hoch, und als diese Woche in der Ravensburger Altstadt ein Dachstuhl brannte, meldete sich eine Bewohnerin bei der „Schwäbischen Zeitung“, um ihr Lob anzubringen: „Wie die Feuerwehrleute den Brand gelöscht haben, hilfsbereit, professionell, im Team – großartig.“Dazu kommt die schon beispiellose Solidarität unter Nachbarn, unter Freunden und Bekannten (siehe auch: www.schwäbische.de/coronahilfe) für Einkaufshilfen und Kinderbetreuung.
„Ich finde das toll“, sagt Andrea Bräunigen und muss selber über ihre Worte lächeln. Auch sie arbeitet in einer Bäckereifiliale und ist gerührt davon, wie die Kunden in diesen Tagen auftreten. „Sie halten Abstand, sie sind höflich und sie sind dankbar“, so Bräunigen. „Es geht menschlicher zu als sonst.“Beim Bäcker und anderswo.
So ist es vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich, dass die Leute nicht morgen und auch nicht übermorgen, womöglich aber in einem Monat oder in einem Jahr mit ganz anderen Augen auf diese merkwürdige Zeit der Corona-Krise zurückblicken. Und um Klopapier muss sich übrigens schon jetzt niemand mehr sorgen, das Regal im Supermarkt füllt sich wieder. Die angebotene Marke trägt auch einen vielversprechenden Namen:
„Happy End“.
„Wenn ich das Virus bekomme, dann verliere ich vielleicht meine Mutter.“
Ganze Uz, Imbiss-Mitarbeiterin in Ravensburg