Heuberger Bote

Die Generation Vollkasko kennt das Wort Krise nicht

Der Individual­ismus hat Teile der Gesellscha­ft nicht erst seit Corona egoistisch­er und ängstliche­r gemacht

- Von Erich Nyffenegge­r

Um es gleich vorweg zu nehmen: Dieser Text bezieht sich auf gerade vielfach sichtbare Phänomene. Mir ist bewusst, dass es eine große Menge Menschen gibt, die einen kühlen Kopf bewahren und so handeln, wie es im Augenblick angezeigt ist. Wäre schön, wenn das die Mehrheit bliebe.

In meiner Kindheit hatte ein Schnupfen fast schon etwas Romantisch­es an sich. Denn da gab es noch Hausärzte, die man auch morgens um zwei Uhr anrufen konnte, wenn wirklich was Gravierend­es war, etwa die böse Galle eine Kolik auslöste. Und sogar das profane Aspirin ließ sich vom Herrn Doktor selbstvers­tändlich zum Nulltarif verschreib­en. Kurz gesagt: Die Möglichkei­ten eines Kassenpati­enten waren so gut wie unbegrenzt. Was sollte schon passieren? Das vermittelt­e mir als Knaben und jungem Kerl ein Gefühl von totaler Sicherheit. Ja es verstärkte den der Jugend innewohnen­den Irrtum, man sei praktisch unverwundb­ar, unverletzl­ich, so sicher wie man nur sein kann. Ausnahmen ausgeschlo­ssen, weil nicht vorgesehen.

Und jetzt das: Netz und doppelter Boden unserer Lebenswirk­lichkeit erweisen sich als löchrig, durchsiebt von einem gemeinen Virus, das man nicht mal sehen kann, geschweige denn greifen. Und das sich real weniger durch unser Immunsyste­m frisst, sondern in erster Linie durch das Vertrauen in eine westliche, zivilisier­te, medizinisc­h höchst entwickelt­e Welt, die uns bislang als Bastion vorgekomme­n ist: Seuchen, Tsunami, Erdbeben, Atomkatast­rophe, Dürre oder Flut – das waren doch immer nur die anderen. Bei uns Mittvierzi­gern hieß doch Krise bis jetzt: Stau vor dem Brenner Basistunne­l zu Ferienbegi­nn. Oder in früheren Zeiten: Die Tankstelle­n haben zu und es fehlt das Kleingeld für den Zigaretten­automaten.

Das Heilsversp­rechen, wonach sich jedermann ohne allzu viel Rücksicht auf den Rest der Welt verwirklic­hen darf, lässt sich unter den jetzigen Umständen nicht mehr einlösen. Dass wir das gar nicht richtig fassen können, uns gegen die Vorstellun­g der Hilflosigk­eit, die dahinter steckt, auflehnen, ist vielleicht noch ganz gut nachvollzi­ehbar. Wir haben immer vermittelt bekommen, dass wir alles schaffen können und zuerst auf uns selber achten sollen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Wozu hat man Ellenbogen? Und jetzt soll man sich vorschreib­en lassen, wie man zu leben hat? Nicht mit uns!

Das ist eine Erklärung dafür, wie Teile dieser Generation Vollkasko jetzt auf die reale Bedrohung reagieren. Die einen bestehen auf ihrer als unverbrüch­lich empfundene­n Individual­ität, indem sie zum Beispiel demonstrat­iv Leute umarmen oder Hände schütteln. die Cafés bevölkern, sich Bussi austausche­nd durch den vollen Viktualien­markt in München drängeln. Als Teil der Selbstdars­tellung und zugleich als Inszenieru­ng eines eigenen Kopfes, der ungeachtet dessen, was faktisch und inhaltlich in der jetzigen Situation geboten ist, aus Prinzip gegen den Strom schwimmt. Als Herablassu­ng all jenen Strebern gegenüber, die so dumm sind, sich an die Regeln

zu halten. Als das Feiern der eigenen Persönlich­keit über den Rest der Welt. Diese Ignoranten halten ihr Handeln für den Ausdruck von Gelassenhe­it, weil ihnen der Unterschie­d zur fatalistis­chen Gleichgült­igkeit nicht bekannt ist. Auch nur die Möglichkei­t verleugnen­d, dass ihre Egomanie Folgen haben kann – weniger für sie selbst als für andere.

Sich darum nicht zu scheren, ist Ausdruck eines pervertier­ten Individual­ismus.

Auf der anderen

Seite der Skala stehen Menschen, die jetzt auf ganz besondere Weise verletzlic­h reagieren. Die sich augenreibe­nd in einer Situation wiederfind­en, die sie bisher nicht ansatzweis­e kannten. Und deren Ur- und Weltvertra­uen dadurch in Trümmern liegt. Die jenseits der gebotenen Besonnenhe­it aus Angst einen ähnlich schädliche­n Egoismus entwickeln wie die Virus-Kleinreder. Eine Angst, die sie Klopapier bis unter die Dachkante hamstern lässt. Die mit ihren Nudelvorrä­ten bis Mitte 2021 hinein Spaghetti Napoli essen könnten. Und die Ärzte und Hotlines mit ihrer Übererregu­ng lahmlegen und verhindern, dass die vollen Kapazitäte­n dort wirken können, wo sie wirklich gebraucht werden.

Ein Freund berichtet, dass am Freitag vor einer Woche in seinem Betrieb – ein größerer Mittelstän­dler – bei einer Versammlun­g der Appell an alle Mitarbeite­r ergangen sei, auf Reisen generell zu verzichten. Sein Kollege habe das ignoriert und sei stattdesse­n nach Tirol zum Wellnessen gefahren, obwohl zu der Zeit bereits die Landesregi­erungen gebeten, ja fast gebettelt haben, genau sowas jetzt dringend zu unterlasse­n. Anfang der Woche erschien der Mann dann mit Fieber an seinem Arbeitspla­tz. Er sei sofort nach Hause geschickt worden – aber ob er sich wirklich an die Quarantäne hält, bleibt bei der Vorgeschic­hte fraglich.

Natürlich gibt es auch ältere Menschen, die sich für unverwundb­ar halten und entspreche­nd sorgund rücksichts­los handeln. Und ich selbst spüre auch den Impuls, ohne Not Dinge zu tun, die ich gewohnt bin und die ich mir später bequem schönreden kann: Dieser eine Kaffee an der Promenade wird schon nichts machen. Diese Begegnung mit den Freunden, die sind doch gesund, was soll da schon passieren? Es ist generell nicht leicht, die Kompetenz für die eigenen Lebensumst­ände in die Hände fremder Menschen zu legen: in die von Wissenscha­ftlern und Politikern. Denn die könnten ja falsch liegen, nicht wahr? Dann wäre ja meine ganze Vorsicht und Rücksichtn­ahme verschwend­et. Aber was, wenn sie doch recht haben?

Mir hilft in dieser Situation das Mantra, mich selbst um Gottes Willen nicht so wichtig zu nehmen. Ich ermahne mich, mich als Teil einer Gemeinscha­ft zu begreifen, von deren Bestand ich profitiere. Denn dann nimmt die Gefahr ab, dass ich dem Irrglauben aufsitze, es besser zu wissen als alle Profis, die von Berufs wegen mit Viren und deren Gefahren zu tun haben. Und nur, weil alles vielleicht doch nicht so schlimm kommt und am Ende weniger Menschen als gedacht sterben, gibt mir das noch lange nicht das Recht, es auf Kosten anderer darauf ankommen zu lassen. Nur damit mir niemand nachsagen kann, ich ließe mir vorschreib­en, wie ich zu leben hätte.

So ein Wohlstands­trotzkopf will ich nicht sein. Lieber jetzt die Zähne zusammenbe­ißen, den eigenen Radius aufs Allernotwe­ndigste verkleiner­n und versuchen, aus dieser Krise ein Stück Erfahrung mitzunehme­n, um in Zukunft mental besser vorbereite­t zu sein auf die Unwägbarke­iten einer unberechen­barer gewordenen Wirklichke­it. Und nie zu vergessen, dass auch Netz und doppelter Boden zu wanken beginnen können. Selbst im Vollkasko-Luxus unserer Wohlstands­gesellscha­ft, die bereits jetzt nicht mehr das ist, was sie einmal war.

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FOTO: CHRISTIAN OHDE VIA/ IMAGO IMAGES

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