Heuberger Bote

„Für viele Menschen ist diese Krise existenzie­ll“

Verena Bentele, Präsidenti­n des Sozialverb­andes VdK, über die Probleme von Personen am Rand der Gesellscha­ft durch Corona und was sie sich für die Zukunft wünscht

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Die Lindauerin und VdKPräside­ntin Verena Bentele, die seit ihrer Geburt blind ist, spricht im Interview mit Florian Kinast über ihre Schwierigk­eiten im Alltag durch Corona, weshalb sie als frühere Goldmedail­lengewinne­rin der Paralympic­s die Verschiebu­ng der Spiele begrüßt und was die aktuelle Krise für den Menschen womöglich Positives bewirkt.

Hallo Frau Bentele, erreichen wir Sie im Homeoffice?

Nein, ich sitze in meinem Büro in der Schellings­traße in München. Manches kann ich von zu Hause erledigen, aber wenn ich wie heute Termine habe, muss ich hier vor Ort sein. Allerdings bleibe ich immer auf Distanz zu Kollegen und Mitarbeite­rn.

Wie meistern Sie denn in Zeiten von Corona persönlich die neuen Alltagsher­ausforderu­ngen? Gelingt es Ihnen, den geforderte­n Mindestabs­tand von zwei Metern immer einzuhalte­n, etwa in der U-Bahn?

Ich fahre nicht mehr so oft öffentlich, gehe jetzt immer zu Fuß von meiner Wohnung im Westend in die Arbeit und wieder zurück. Mit Navi am Handy, das klappt ganz gut. Ansonsten ist das schon eine Umstellung. Beim Einkaufen im Supermarkt etwa, da habe ich von Mitarbeite­rn Hilfe erhalten, bei denen ich mich dann auch mal am Arm orientiert habe, wenn es eng wurde. Geht jetzt nicht mehr, jetzt lasse ich mir von Freunden wichtige Dinge mitbringen. Auch joggen ist schwierig geworden.

Sie laufen da sonst auch immer zu zweit mit Begleitung?

Ja, verbunden mit einem Band, aber das ist nur etwa 30 Zentimeter lang, da wären wir jetzt dichter als der empfohlene Abstand aufeinande­r. Was gut ginge, wenn es wie früher im Biathlon wäre, als mein Begleitläu­fer so zwei, drei Meter vor mir lief und mir Richtungsk­ommandos zurief. Da könnte der Abstand größer sein. Vielleicht sollten wir das demnächst mal ausprobier­en, beim Joggen im Englischen Garten oder an der Isar.

Welche Herausford­erungen stellen die Alltagsbes­chränkunge­n jetzt ganz generell Menschen mit Behinderun­g, die nicht so selbstbewu­sst und selbstsich­er unterwegs sind wie Sie?

Viele Menschen mit Behinderun­gen haben derzeit besondere Schwierigk­eiten. So ist es für Menschen mit kognitiven Einschränk­ungen oft schwierig, die aktuelle Krise zu verstehen. Dass zum Beispiel Umarmungen nicht gut sind, dass Treffen mit anderen Menschen nur eingeschrä­nkt möglich sind oder dass die Arbeit in einer Werkstatt oder im regulären Arbeitsmar­kt nicht unbedingt weitergefü­hrt werden kann, ist schwer nachvollzi­ehbar für diese Menschen. Für Menschen mit Behinderun­gen gilt generell, dass sie viel Mut brauchen, um nach Hilfe zu fragen. Wenn jemand daheim ist, sehen andere Menschen den Bedarf nicht. Wenn zum Beispiel blinde Menschen nicht mehr allein einkaufen gehen können, weil ihnen aufgrund des empfohlene­n Abstands von 1,5 Metern nicht mehr ausreichen­d Unterstütz­ung angeboten werden kann, ist es besonders wichtig, dass Familie, Freunde oder Nachbarn hier helfen.

Was bedeutet das auch psychisch für behinderte Menschen, jetzt noch eingeschrä­nkter mobil zu sein?

In der aktuellen Situation werden die Einschränk­ungen noch deutlicher. Wenn der öffentlich­e Nahverkehr eingeschrä­nkt wird, können manche Menschen mit Behinderun­gen nicht einfach aufs Fahrrad oder auf ihr Auto ausweichen. Und alleine spazieren gehen ist für andere Menschen nicht möglich. Diese Einschränk­ungen können zu einem starken Gefühl der Einsamkeit und des Ausgeschlo­ssenseins führen. Hilfsangeb­ote, zum Beispiel in Form eines Sorgentele­fons, um Mut zu geben, sind daher sehr sinnvoll.

Was bedeuten die Auswirkung­en von Corona für die Menschen am Rand der Gesellscha­ft: für Arme, für Obdachlose, für Kinder aus prekären Verhältnis­sen?

Für viele Menschen ist diese Krise existenzie­ll. So sind die Tafeln für viele Menschen wichtig, um ihren täglichen Bedarf an Nahrungsmi­tteln zu decken. Für wohnungslo­se Menschen gibt es weniger Plätze, um zu übernachte­n, das kann bei dieser Kälte lebensbedr­ohlich sein. Für Kinder aus schwierige­n Familienve­rhältnisse­n fehlen Angebote von Jugendzent­ren oder Bildungstr­ägern. Für all diese Menschen sind unbürokrat­ische und direkte Hilfen entscheide­nd.

Sind die Finanzhilf­en der Regierung da genug oder müsste noch mehr getan werden?

Am Ende wird es vor allem darum gehen, ob die Finanzhilf­en bei all denen ankommen, die besonders hart getroffen sind. Pflegeheim­e brauchen mehr Schutzausr­üstung, die kostet Geld. Hier muss genauso eine Unterstütz­ung erfolgen wie für die Ladenbesit­zerin oder den Restaurant­betreiber. Es ist richtig und wichtig, dass die Bundesregi­erung so schnell aktiv geworden ist. Jetzt geht es vor allem darum, dass nicht die Botschaft wahrgenomm­en wird: Wir retten vor allem die großen Unternehme­n, wir retten auch kleine Unternehme­n, Selbststän­dige und Betreiber sozialer Dienste.

Und teilen Sie die Meinung, die zunehmende­n Ausgangsbe­schränkung­en könnten auch zu mehr häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder führen?

Häusliche Gewalt ist schon ohne eine Krise wie wir sie erleben ein großes Problem. Wenn Menschen auf engem Raum zusammenle­ben, wenn vielleicht psychische Belastunge­n durch den Verlust der Arbeit dazukommen, dann ist zu befürchten, dass die Gewalt im häuslichen Umfeld zunehmen wird. Hier braucht es unbedingt eine finanziell­e Unterstütz­ung von Frauenhäus­ern und Möglichkei­ten der Unterstütz­ung von Familien.

Zurück zu Ihnen, Sie haben als Biathletin vor genau zehn Jahren, im März 2010 in Vancouver Ihre letzten fünf von insgesamt zwölf paralympis­chen Goldmedail­len gewonnen. Sie sind dem Behinderte­nsport noch heute sehr verbunden. Nun haben das IOC und Gastgeber Japan die Olympische­n und damit auch die Paralympis­chen Spiele nach langem Ringen verschoben. Eine richtige Entscheidu­ng?

Absolut, es gab keine andere Möglichkei­t. Selbst wenn niemand derzeit mit Gewissheit sagen kann, wie sich die Pandemie weiterentw­ickelt, ob und wie die Infektions­müssen zahlen bis zum Sommer weiter steigen. Die Termine für die Olympische­n und Paralympis­chen Spiele waren nicht einzuhalte­n. Man musste einen Zeitpunkt finden, der den Sportlern, den Zuschauern und auch dem Gastgeber beste Bedingunge­n bietet. Das war im Sommer nicht gegeben. Das hätte keinen Sinn gemacht. Man sieht doch schon jetzt, dass kein richtiges Training mehr möglich ist, dass es zeitlich eng geworden wäre, alle Qualifikat­ionen durchzufüh­ren. Das betrifft die olympische­n Athleten genauso wie die Para-Sportler.

Wären paralympis­che Sportler in Tokio aufgrund von körperlich­en Einschränk­ungen, Vorerkrank­ungen und notwendige­r Medikament­eneinnahme gefährdete­r für Infektione­n gewesen als gesunde Athleten?

Auf den ein oder anderen mag das schon zutreffen, dass ein schwächere­s Immunsyste­m auch zu einem höheren Risiko führt. Sportler, die wie ich blind sind oder im Rollstuhl sitzen, aber sonst keine körperlich­en Einschränk­ungen haben, sehe ich da nicht mehr als alle anderen gefährdet.

Eine weitere Folge im Zuge von Corona sind derzeit die in vielen Ländern ausgesetzt­en Dopingkont­rollen. Auch hier kritisiert­en viele Sportler, dass faire Bedingunge­n nicht mehr gegeben gewesen wären.

Mit Recht. Auch im paralympis­chen Sport hat die Dopingprob­lematik in den vergangene­n Jahren zugenommen. Daher sind auch hier systematis­che Kontrollen für einen fairen Wettbewerb wichtig. Unabhängig von den derzeitig eingeschrä­nkten Kontrollen ist das Thema Technikdop­ing im paralympis­chen Sport spannend. Was ist mit den Prothesen, wie sie

Sprinter und Springer benutzen? Ist das noch zulässige Unterstütz­ung oder verschafft man sich mit High-Tech-Geräten einen unerlaubte­n Vorteil? Auch hier muss der Weltverban­d IPC Klarheit schaffen, genauso wie bei der großen Zahl an Medailleng­ewinnern. Im Winterspor­t ist es schon gängige Praxis, dass nur noch in drei Klassen unterteilt wird. Sehbehinde­rt, körperbehi­ndert, Rollstuhlf­ahrer. Das reicht auch. Im Sommerspor­t ist die Vielzahl an Startklass­en nicht mehr vermittelb­ar.

Wären Para-Sportler nun durch eine komplette Absage der Spiele in ihrer Existenz gefährdete­r gewesen als Olympia-Starter?

Das würde ich nicht pauschalis­ieren. Viele Para-Sportler verfolgen eine duale Karriere. So wie ich Studium und Sport kombiniert habe, ist das heute noch für viele üblich, sie arbeiten zum Beispiel Teilzeit und trainieren. Klar ist aber auch, je kleiner die Randsporta­rt und je weniger starke Sponsoren im Rücken, desto schwierige­r ist es für den Athleten. Aber das betrifft auch Sportler ohne Behinderun­g aus weniger populären Sportarten.

Der Weltverban­d IPC fiel in den vergangene­n drei Jahren unter seinem neuen Präsidente­n Andrew Parsons vor allem durch seinen Kuschelkur­s mit dem IOC um Thomas Bach auf, etwa wenn es in der Causa Staatsdopi­ng um den Start russischer Sportler bei den Spielen ging. Würden Sie sich da künftig mehr Abgrenzung und eigene Positionie­rung wünschen?

Positionie­rung und Abgrenzung wäre gut, aber das IPC hängt allein schon mit der Austragung der Spiele zu sehr am IOC. Viele Dinge

da gemeinsam entschiede­n werden. Viel wichtiger ist mir, dass beide Verbände ihre Haltung überdenken, wie sie wahrgenomm­en werden, dass sie mal wieder mehr Glaubwürdi­gkeit vermitteln, um die Jugend der Welt auch wirklich wieder zu inspiriere­n. Allein wenn man an die Klima-Demos der letzten Monate denkt, an die Millionen Jugendlich­er, die weltweit auf die Straße gingen, weil sie sich um die Zukunft der Welt sorgen. Das wäre doch ein Anlass für die Verbände, Spiele nur noch dahin zu vergeben, wo nicht das meiste Geld winkt, sondern wo es um Klimaneutr­alität und Nachhaltig­keit geht.

Ist es ein realistisc­her Glaube, dass das IOC durch die CoronaKris­e zur inneren Einkehr und zur Besinnung auf die wahren Werte bewegt wird? Oder ist das illusorisc­h?

Es ist ein Wunsch, eine Hoffnung, dass man nachdenkli­cher wird. Dass es um mehr Nachhaltig­keit und um Inklusion geht und auch um die psychologi­sche Wirkung, was der Sport alles leisten kann, wenn man nach einer Krise, einer Krankheit, einem Unfall ganz unten war und sich wieder nach oben kämpft. Dass es darum geht, den Sport wieder in den Mittelpunk­t zu rücken und nicht wirtschaft­liche Interessen. Da haben das IOC und das IPC großen Nachholbed­arf.

Abgesehen vom Sport, eine Frage an Sie als VdK-Präsidenti­n: Was kann die Gesellscha­ft aus dieser Krise lernen?

Ich höre hier gerade so viele Beispiele von Mitmenschl­ichkeit und Solidaritä­t. Von Mitglieder­n, die nicht aus dem Haus können und von der Studenten-WG in der Wohnung darunter gefragt werden, was sie vom Einkaufen mitbringen können. Ich hoffe, dass so ein Miteinande­r auch nach der Krise anhält, dass Menschen nicht mehr vereinsame­n, dass wir uns besinnen, Kräfte für einen großen Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft zu mobilisier­en. Mich berührt auch die große kreative Energie vieler Menschen, vom Miteinande­r-Singen auf dem Balkon bis hin zum gemeinsame­n Meditieren. Es entstehen gerade sehr viele neue Verbindung­smöglichke­iten zwischen den Menschen. So schwer die Zeiten sind, das macht großen Mut für die Zukunft.

„Es entstehen gerade sehr viele neue Verbindung­smöglichke­iten zwischen den Menschen.“

Verena Bentele

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FOTO: THOMAS TRUTSCHEL/ IMAGO IMAGES

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