Beatmungstherapie ist das „Nadelöhr“
Der Leiter des Instituts für Katastrophenmedizin muss umdenken.
SPAICHINGEN / STUTTGART - Nur eineinhalb Stunden von hier entfernt entscheiden Ärzte: Über 80-jährige Coronakranke werden nicht mehr beatmet, sondern palliativ – also im Sterbeprozess – versorgt? Und das, weil es nicht genug Beatmungsplätze gibt? Dr. Stefan Gromer, Leiter des deutschen Instituts für Katastrophenmedizin in Stuttgart und Tübingen, das derzeit die Corona-Abstrichstelle in Spaichingen betreibt, ist Mitautor des betreffenden Berichts an Innen- und Sozialministerium, der über andere Behörden, Rettungsdienste und Kliniken den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat.
Vor rund zehn Tagen hat Gromers vorläufige Einschätzung der Situation und Gefährlichkeit des Virus („Keine Panik!“) für einzelne Irritation gesorgt. Heute stimme er zwar den methodischen Zweifeln einzelner Wissenschaftler zur Erhebung der Daten nach wie vor zu. Doch was die Einschätzung der Lage insgesamt angeht, „hat die Erfahrung in Straßburg (...) in unserem Hause ein Umdenken“verursacht, „so auch bei mir“, sagt Gromer heute.
Das neuartige Virus unterscheide sich von der Influenza darin, dass es zwar nur bei einem kleinen Teil der Betroffenen schwer wiege, da aber dann heftig. „Die außergewöhnlichen Verläufe führen stets zur Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Beatmungstherapie“, und das sei das „Nadelöhr“, so Gromer. Außerdem seien die der Influenza, also Grippe zugeschriebenen Todeszahlen hochgerechnete Zahlen, abhängig von den zuvor gemeldeten Influenzakranken. Das sei aber nicht unüblich. „Es wäre falsch zu sagen, an Influenza stirbt annähernd niemand, nur weil die tatsächliche Ursache auf dem Totenschein nicht Influenza, sondern zum Beispiel Herzversagen“sei.
Auch die Tatsache, dass Bluthochdruck, Adipositas und Diabetes, neben Lungenerkrankungen, einen Menschen der Hochrisikogruppe zugeordnet werden lassen, gebe so bei der Grippe nicht.
Der große Unterschied sei, dass man bisher jedem Erkrankten therapeutisch helfen konnte. Ob er es schaffte, hing dann von seinem persönlichen Zustand ab. Dass man jetzt aber womöglich aufgrund fehlender Kapazitäten gar nicht mehr richtig behandeln könnte, das mache den Unterschied, nicht die absoluten Zahlen. Denn „auf diese Weise haben wir in Deutschland zumindest in meiner Generation noch keinen Patienten verloren“.
Deshalb haben er und seine Kollegen die Vorschläge zur besten Nutzung der Kapazitäten gemacht und in der Folge auch mit dem Ministerium diskutiert. Weil im Rettungsdienst und für Beatmungsbetten ganz spezielle und langwierig ausgebildete Ärzte und Pfleger für die diffizile Beatmung benötigt werden, müssten genau für diese Gruppe besondere Vorkehrungen getroffen werden.
„Mit einer falschen Drehung an einer Schraube kann man jemanden umbringen“, sagt Gromer, so hochspezifisch seien diese Tätigkeiten an den Beatmungsbetten. Er habe noch nie gesehen, dass es so schnell zu so schweren Verläufen komme. In Straßburg sei in der Zeit, in der die drei Ärzte aus Deutschland zum Besuch gewesen seien, jede Stunde ein beatmungspflichtiger Patient eingeliefert worden. Nach einer zuvor moderaten Phase, in der wir uns gerade befinden. Und genau dies lasse auch die Befürchtung aufkommen, dass auch bei uns die Kapazitätsgrenzen erreicht werden könnten – und dann solch belastende Entscheidungen gefällt werden müssten, wer gerettet werden solle, und wer nicht.
Gromer plädiert in dem Bericht aus Straßburg auch darauf, eine Zweiteilung des medizinischen Personals vorzunehmen und auch infizierte, aber symptomfreie Spezialisten gut geschützt im Einsatz zu belassen und die einfache Pflege anderen
Kräften zu übertragen. Behelfsbetten sollten daher auch nicht in Turnhallen, sondern in den Kliniken, ganz nah an den Spezialisten und Beatmungsbetten – zum Beispiel wie in Straßburg in der Krankenhauskantine – eingerichtet werden.