Atempause am Neckartor
Warum weniger Autos nicht gleich weniger Schadstoffe sind – Langfristiger Trend positiv
- Das Neckartor in Stuttgart hat zweifelhafte Berühmtheit erlangt – als dreckigste Kreuzung im Land. Die Schadstoffwerte, die hier gemessen werden, spielen eine zentrale Rolle bei der Auseinandersetzung um Fahrverbote im Stuttgarter Talkessel. Doch in diesen Tagen herrscht dort so wenig Verkehr wie lange nicht.
Etwas mehr als 40 000 Fahrzeuge passierten an den Werktagen der zweiten Aprilwoche täglich die Messstation der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW). Vor den Ausgangsbeschränkungen im Zuge der CoronaKrise, die ab 16. März galten, war dort deutlich mehr los: In der letzten Woche vor dem Herunterfahren des öffentlichen Lebens, vom 11. bis 15. März, fuhren jeweils rund 60 000 Autos pro Tag beim Neckartor entlang. Lediglich am Freitag, als sich der Lockdown schon abzeichnete, waren es nur noch 40 000 Fahrzeuge.
Der Verkehr an der Kreuzung hat also um rund ein Drittel abgenommen. Entsprechend sauberer, so könnte man annehmen, hätte dort die Luft werden müssen – schließlich gilt die örtliche Verkehrsbelastung als Hauptgrund für die hohen Schadstoffwerte an dieser Stelle.
Ganz so einfach ist es aber nicht. Beim Stickstoffdioxid (NO2) – um diesen geht es beim Rechtsstreit um Diesel-Fahrverbote – gab es laut LUBW in diesem Jahr noch keine Grenzwertüberschreitung, weder am Neckartor noch sonst irgendwo in Baden-Württemberg. Das gilt allerdings auch für die Monate Januar und Februar, und da war das öffentliche Leben noch nicht eingeschränkt. Insgesamt lag der Mittelwert im ersten Quartal bei 40 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft und entsprach damit exakt dem festgelegten Grenzwert, wie LUBW-Präsidentin Eva Bell am Donnerstag in Stuttgart sagte. „Sollte sich die Belastung bei diesem Wert einpendeln, würde 2020 erstmals der Grenzwert eingehalten werden.“
Merkwürdig daran scheint auf den ersten Blick: Im Februar, als das öffentliche Leben noch nicht eingeschränkt war, lag der monatliche Mittelwert bei 36 Mikrogramm pro Quadratmeter. Im März, in dessen Verlauf der Verkehr stark nachließ, aber bei 37 Mikrogramm pro Quadratmeter Luft. Hat der Straßenverkehr also einen niedrigeren Anteil an der schlechten Luft als angenommen?
Jedenfalls ist er nicht der einzige Einflussfaktor. Eine entscheidende Rolle spielt das Wetter. Und die Großwetterlage hat sich just Mitte März, etwa gleichzeitig mit dem Beginn
der Corona-Beschränkungen, geändert. Während des Februars und bis in den März hinein war es windig und stark regnerisch, sodass sich Schadstoffe schnell in der Luft verteilen konnten. Seit Mitte März ist es hingegen trocken, der Wind hat deutlich nachgelassen. Es gibt kaum noch einen Austausch der Luft, in ihr reichern sich die Schadstoffe an.
Andererseits: Wäre der Verkehr in der vorherrschenden Wetterlage weitergelaufen wie bisher, hätte die Schadstoffkonzentration wohl kritische Höhen erreicht. Angesichts der austauscharmen Luft hätten die Messwerte eigentlich stark ansteigen müssen, sagt LUBW-Chefin Bell. „Den Anstieg haben wir aber nicht so stark festgestellt, und das würde ich schon mit dem nachlassenden Verkehr in Verbindung bringen.“
Auf den ersten Blick überraschend sind auch die Messwerte beim Feinstaub. Hier wurde am 28. März – der Samstag zwei Wochen nach Beginn der Corona-Beschränkungen – sogar zum ersten Mal seit fast zwei Monaten der Grenzwert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter im Tagesmittel am Neckartor gerissen, und zwar mit einem Wert von 62 Mikrogramm recht deutlich. Messstationen in Aalen, Biberach, Friedrichshafen oder Konstanz verzeichneten an diesem Tag ebenfalls deutliche Grenzwertüberschreitungen
beim Feinstaub. Die einsamen Spitzenwerte erklären Fachleute mit dem Einschweben von Staub aus der Sahara, ein Phänomen, das abwegig klingt, laut Meteorologen aber tatsächlich mehrmals im Jahr vorkommt.
Über einen längeren Zeitraum gesehen, hat sich die Lage beim Feinstaub in Stuttgart aber deutlich entspannt. Weil sowohl 2018 als auch 2019 alle Grenzwerte eingehalten wurden, hat die Stadt jetzt auch den umstrittenen Feinstaubalarm abgeschafft. „Der Feinstaubalarm war richtig und erfolgreich: Die Luft in unserer Stadt ist sauberer geworden“, bilanzierte Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne).
Die Stickstoffdioxide bleiben hingegen trotz sinkender Messwerte ein Problem für die Politik. Die Landesregierung steht nach wie vor unter juristischem Druck, weitere Fahrverbote verhängen zu müssen, um die Vorgaben zur Luftreinhaltung zu erfüllen. Kläger im Verfahren ist die Deutsche Umwelthilfe.
Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) hat dem Stuttgarter Verwaltungsgericht nun einen Brief geschrieben. Man beobachte seit Beginn der Kontaktbeschränkungen eine Verbesserung der NO2-Werte an Werktagen um bis zu zehn Mikrogramm pro Kubikmeter Luft, heißt es darin. Angesichts der Corona-Krise bittet er die Richter um eine „Atempause bei der Luftreinhaltung“, konkret: einen Aufschub bei weiteren Verkehrsbeschränkungen für Dieselautos.
Eigentlich hätte der Koalitionsausschuss Mitte April über die Notwendigkeit neuer Fahrverbote entscheiden müssen, sagte Hermann am Donnerstag. Diesen Zeitplan habe die Corona-Krise über den Haufen geworfen. „Aber die Zahlen geben Anlass zum Optimismus, dass es für weitere Fahrverbote keine Erforderlichkeit gibt“, sagte der Verkehrsminister.
Die FDP fordert Grün-Schwarz zu einer schnellen Entscheidung auf. „Eine Ausweitung für Euro-5-DieselFahrverbote über die bisherigen einzelnen Strecken hinaus auf die sogenannte kleine Umweltzone ist aus meiner Sicht mit dem heutigen Tag erledigt“, betonte FDP-Verkehrsexperte Jochen Haußmann.
Beim Stickstoffdioxid gilt: Der Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft bezieht sich auf das gesamte Kalenderjahr und nicht auf einzelne Tage. Wenn der Straßenverkehr bald wieder auf das übliche Maß ansteigt, dann wird eine Corona-Pause von wenigen Wochen das Gesamtergebnis des Jahres nur wenig beeinflussen – und ebensowenig die Debatte über den Sinn von Fahrverboten.