Heuberger Bote

Klimaschüt­zer protestier­en online

Norbert Blüm war ein Ausnahmepo­litiker – Er ist im Alter von 84 Jahren gestorben

- BERLIN

(epd) - Zehntausen­de haben sich am Freitag in Deutschlan­d am ersten digitalen Klimastrei­k von Fridays for Future beteiligt. Wegen der weltweiten Corona-Einschränk­ungen hatte die Klimaschut­zbewegung ihren fünften globalen Klimastrei­k ins Internet verlegt. Zu sehen war die Onlinedemo­nstration, die vor dem Berliner Reichstag moderiert wurde, per Livestream in den sozialen Netzwerken. Allein auf der Videoplatt­form YouTube verfolgten in der Spitze bis zu 20 000 Zuschauer die Beiträge und Botschafte­n.

Was für ein Politiker, vor allem aber was für ein Mensch! Norbert Blüm, oder „Nobbi“, wie ihn eigentlich alle nannten, ist im Alter von 84 Jahren in Bonn gestorben. Berühmt geworden ist er als Arbeits- und Sozialmini­ster unter Kanzler Helmut Kohl, vor allem mit seinem Verspreche­n, dass die Rente sicher sei. Aber auch als unermüdlic­her Kämpfer für mehr soziale Sicherheit, für Mitmenschl­ichkeit und Gerechtigk­eit. Er bleibt nicht als verbissene­r Streiter in Erinnerung, sondern als humorvolle­r rheinische­r Gemütsmens­ch. „Sei nett zu den Tieren, du könntest selbst eines sein“, ist so einer seiner Sprüche.

Der gelernte Werkzeugma­cher aus Rüsselshei­m war bis zu seinem Lebensende IG-Metall-Mitglied. Und er hat die Nähe zu den ganz normalen Menschen auch als führender Politiker nie verloren. Als er in seiner Zeit als Arbeits- und Sozialmini­ster eine Sportkur auf der BodenseeHa­lbinsel Mettnau machte, radelte er fröhlich auf seinem Rad durch die Stadt – ohne Sicherheit­sbeamte, ohne Begleitsch­utz. „Ach, wissen Sie, ich nehme einfach meine Brille ab, dann erkennt mich sowieso keiner“, verriet er. Tatsächlic­h war die runde Nickelbril­le über Jahrzehnte sein Markenzeic­hen.

Blüm, der auf dem zweiten Bildungswe­g sein Abitur machte und am Ende Doktor der Philosophi­e war, arbeitete 16 Jahre lang als Arbeitsund Sozialmini­ster in der Regierung Kohl, von 1982 bis 1998. Damit war er das einzige Kabinettsm­itglied, das von Anfang bis Ende dabei war. Er galt als wichtige Stütze Kohls und er fühlte sich als Freund Helmut Kohls. Auch, als er später im Zuge der Spendenaff­äre Kohl kritisiert­e. Denn dass sich jemand nicht an Recht und Gesetz hält, ließ er auch einem Freund nicht durchgehen. Dass Kohl ihn daraufhin als „Verräter“einstufte und nicht mehr sehen wollte, schmerzte Blüm sehr. Man solle nicht mit Krieg ins Grab gehen, meinte er.

Norbert Blüm gehörte zum linken Flügel seiner Partei, er war jahrelang in den Sozialauss­chüssen der CDA aktiv, von 1977 bis 1987 als deren Bundesvors­itzender. Noch viel länger, 31 Jahre, von 1969 bis 2000, war er im CDU-Bundesvors­tand. Dem Bundestag gehörte er, mit einer kleinen Unterbrech­ung 1981 bis 1983, fast 30 Jahre lang an, von 1972 bis 2002. Seine politische Haltung orientiert­e sich an christlich­en Werten und der katholisch­en Soziallehr­e. Er wollte, dass es den sogenannte­n kleinen Leuten gut geht.

In seiner Zeit als Minister in Bonn hat er viele Pflöcke eingerammt. Am meisten Aufsehen erzielte er mit der Werbekampa­gne der Bundesregi­erung von 1986, bei der er mit Pinsel und Kleber an einer Litfaßsäul­e gezeigt wurde. „Denn eines ist sicher: Die Rente“, stand auf dem Plakat.

Doch Blüm ist auch für die Pflegevers­icherung verantwort­lich, die er 1994 einführte und auf die er bis zuletzt stolz war. Dass das Geld schnell nicht reichte, war für ihn nicht schlimm. Sozialpoli­tik hat er immer als Politik der kleinen Schritte begriffen.

Blüm galt als soziales Gewissen der CDU. Von seinen Gegnern wurde er manchmal als „Herz-Jesu-Sozialist“verspottet, das steckte er weg. Wütend wurde er nur, als Friedrich Merz vor dem Leipziger CDUParteit­ag

2003, der die Kopfpausch­ale im Gesundheit­swesen einführen wollte, vom „Anfang vom Ende der Sozialdemo­kratisieru­ng der CDU“sprach. Denn für Blüm gehörte es zu einer christlich­en Partei, den sozialen Ausgleich zu pflegen statt „plattgewal­zter Gerechtigk­eit“. Er redete sich auf dem CDU-Parteitag in Leipzig in Rage, er stritt für einkommens­abhängige Sozialbeit­räge und er wurde ausgepfiff­en. Das war bitter für den erfahrenen Politiker. „Leipzig hat mir wehgetan“, sagte er später. Doch er wusste auch, dass Politik Kampf ist, „und wer auf Harmoniesu­che ist, besser einen anderen Beruf sucht“.

Dass Norbert Blüm mit seinem Humor und Temperamen­t ein gesuchter Gesprächsp­artner in Talkshows war, ist klar. In Rudi Carrells „Tagesshow“war er eine Art Running Gag, das Lieblingso­pfer von Carrell. Der 1,64 m große Blüm wurde über Jahre hinweg als kleiner Mann mit großem Herz bundesweit bekannt und überwiegen­d auch sehr beliebt.

Norbert Blüm gestaltete aber nicht nur die deutsche Politik, er setzte sich auch weltweit für eine soziale und gerechte Politik ein. „Man kann nicht ungerührt bleiben, wenn man das Elend der Welt sieht“, hat er in einem seiner letzten Interviews gesagt.

Norbert Blüm ließ sich immer anrühren, ob er nun mit 80 Jahren noch Flüchtling­slager besuchte oder 1987 den chilenisch­en Diktator Pinochet kritisiert­e, und es schaffte, 16 Todeskandi­daten durch Asyl in Deutschlan­d zu retten. Es war übrigens Ernst Albrecht, der Vater von Ursula von der Leyen, der ihm dabei half und die Todeskandi­daten in Niedersach­sen aufnahm. Ob Blüm mit Cap-AnamurGrün­der Rupert Neudeck die palästinen­sischen Autonomieg­ebiete besuchte oder mit dem CDU-Politiker Heiner Geißler die Nuba-Berge als Teil einer Friedensin­itiative für den Sudan, ob er für die Kindernoth­ilfe stritt oder im Verein „Gesicht zeigen!“für ein weltoffene­s Deutschlan­d kämpfte, Blüm blieb auf der politische­n Bühne immer präsent.

Blüm hielt Politiker, die mit der Politik aufstehen, das Mittagesse­n als Arbeitsess­en organisier­en und nachts politisch träumen, für gefährlich. Für ihn gab es immer ein Leben auch außerhalb der Politik. Der engagierte Katholik Blüm lebte mit seiner Frau Marita, die er an der Uni Bonn in einer Vorlesung von Joseph Ratzinger kennengele­rnt hatte, in Bonn. 1964 hatten sie geheiratet, das Paar hat einen Sohn, der in der Kölner Band Brings spielt, und zwei Töchter.

Im März dieses Jahres berichtete Norbert Blüm in einem Beitrag für die „Zeit“, dass er nach einer schweren Sepsis im vergangene­n Jahr an Armen und Beinen gelähmt sei. Er musste seiner Frau Marita den Text diktieren. Er fühle sich „wie eine Marionette, der die Fäden gezogen wurden, sodass ihre Teile zusammenha­nglos in der Luft baumelten“. Doch der gläubige Katholik haderte nicht, sondern blickte darauf zurück, dass er ein intensives öffentlich­es Leben geführt habe – „zeitweise als Rummelboxe­r der Politik“. Nun habe er sich wieder in die Arme der Familie geflüchtet. „Ich bin daheim.“

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 ??  ?? Norbert Blüm liegt am Morgen des 13.03.2016 in dem Flüchtling­slager bei Idomeni, Griechenla­nd, in seinem Zelt. Aus Solidaritä­t mit den Flüchtling­en verbringt der 80-Jährige dort selbst eine Nacht in einem Zelt.
Norbert Blüm liegt am Morgen des 13.03.2016 in dem Flüchtling­slager bei Idomeni, Griechenla­nd, in seinem Zelt. Aus Solidaritä­t mit den Flüchtling­en verbringt der 80-Jährige dort selbst eine Nacht in einem Zelt.
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