Zwischen Hoffnung und Angst
Wie Menschen aus der Region im Frühjahr 1945 das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebten
Ohne Pause dröhnen die Sirenen in den letzten Kriegsmonaten 1945 durch die Städte und Dörfer zwischen Mannheim und Konstanz. US-Bomber donnern über Südwestdeutschland, die Front rückt näher. Hunger und Kälte quälen die Menschen. Dazu die Ungewissheit.
Das Kriegsende ist auch im Südwesten Deutschlands greifbar: In der Nacht zum 26. März 1945 überqueren die ersten US-Soldaten bei Mannheim den Rhein. Am 1. April setzt auch die 1. französische Armee bei Philippsburg über. Bis zum
30. April sind ganz Baden, Württemberg und Hohenzollern besetzt.
„Wir kommen als siegreiches Heer, jedoch nicht als Unterdrücker“, betont US-General Dwight D. Eisenhower. Doch als Befreier werden die US-Soldaten keineswegs empfangen, dafür hatte sich die Front bereits zu stark nach Süddeutschland hinein verlagert.
Was erleben die Menschen zwischen Schwarzwald, Alb und Bodensee im Frühjahr 1945? In einem Tagebuch, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, erinnern sich Zeitzeugen an jene Tage im April, in denen das Dritte Reich zu Ende ging.
Montag, 19. März 1945, Scheibenhardt in der Pfalz
Donnerstag, 12. April 1945, Biberach
„Der feindliche Boden elektrisiert unsere Leute“, stellt General Jean de Lattre de Tassigny, der Kommandeur der 1. französischen Armee, in seinem Kriegsbericht über den ersten Kampftag fest, als die Franzosen am 19. März bei Scheibenhardt die „Siegfried“-Linie durchbrechen. Nach dreifacher deutscher Besetzung – 1871, 1914, 1940 – innenpolitisch zudem polarisiert in Anhänger Vichys und der Résistance, ist dies für viele Franzosen zunächst die unvermeidbare Chance zur Revanche für die anfängliche Niederlage, für Dünkirchen, für all die vom deutschen „Erbfeind“begangene historische Schmach.
An diesem Donnerstag wird in Biberach gegen 9.30 Uhr Alarm ausgelöst. Viele haben es aber offenbar trotzdem nicht eilig, Keller oder Bunker aufzusuchen, war doch bisher auch nie etwas passiert. Die Leute bleiben in ihren Häusern und Wohnungen, andere stellen sich lediglich im Ulmer Tor unter. Dass es diesmal ernst wird, merken deshalb viele erst zu spät. Augenzeuge Josef Erath in Mettenberg sieht die Bomber von Osten her auf Biberach zufliegen und beobachtet, wie sich die Bombenschächte öffnen und die Sprengkörper herausfallen. 55 Menschen sterben, 14 werden verletzt, 37 Gebäude werden komplett zerstört und 139 beschädigt. Umso tragischer wirkt das ganze Geschehen, weil eine Bombardierung Biberachs von alliierter Seite aus offenbar gar nicht geplant war und es sich bei dem Angriff um einen fatalen Irrtum handelte. Das stellte sich aber erst viel später heraus.
Freitag und Samstag, 20. und 21. April 1945, Tuttlingen
Als die Franzosen sich Tuttlingen nähern, wird am Freitag, 20. April, nachts um 23 Uhr der Volkssturm zusammengerufen. Pflichtgemäß kommen die Männer in bürgerlicher Kleidung, ohne Waffe, auf ihre Sammelplätze. Wie sollten sie einem gut gerüsteten, militärisch ausgebildeten Gegner entgegentreten? Aufgrund der aussichtslosen Lage werden die Männer am Vormittag des 21. April nach Hause entlassen. Die Menschen wollen nicht kämpfen, sie wollen Frieden. Wachtmeister Eugen Zepperer macht dies deutlich: Er hisst auf dem Honberg und der evangelischen Kirche weiße Flaggen.
Widerstand, wie von NSDAPSpitzen befohlen, wäre am Tag des Einmarschs in Tuttlingen sinnlos gewesen und hätte nur die Zerstörung der Stadt zur Folge gehabt. Die beiden Eisenbahnbrücken über die Donau werden jedoch befehlsgemäß gesprengt, die Straßenbrücke nicht. Die Ausführung der Befehle schadet eher der Bevölkerung, als dass sie den Feind aufhalten. Die Landesschützenkompanie zieht nach Mahlstetten ab. 50 SS-Soldaten haben sich an der Stuttgarter Straße verschanzt und beschießen die Panzer. Französische Truppen feuern einige Granaten ab. Um 16 Uhr ziehen die Franzosen über die Stuttgarter Straße ein.
Samstag, 21. April 1945, Frankenhofen bei Ehingen
Hans Aierstok, heute 86 Jahre alt, erinnert sich: „Die Gerüchte gingen um, dass die Front nicht mehr weit entfernt sei. Der Schulunterricht wurde aus dem Dorf in eine Feldscheuer verlegt. Am Samstag, 21. April, strömten plötzlich einige Hundert deutsche Soldaten ins Dorf. Alle Möglichkeiten für ein Quartier von Soldaten und Pferden wurden ausgeschöpft. In der Ferne hörte man bereits Kanonendonner. ,Sie sind noch weit, denn ihre Geschütze haben eine Reichweite von 60 bis 70 Kilometer’, beruhigten die deutschen Landser die Zivilbevölkerung.
Doch schon anderntags wurde es ernst. Am Sonntag, 22. April, kamen der Kanonendonner und die Panzergeräusche immer näher. Die deutschen Soldaten leisteten gegen die amerikanische Übermacht keinen Widerstand und suchten das Weite. Da keine weiße Fahne gehisst wurde, schossen die Amerikaner von ,Schnecka Häule’ (einer Anhöhe zwischen Tiefenhülen und Frankenhofen) das Dorf und einige Häuser in Brand. Der Kirchturm wies ein großes Einschussloch auf. Ältere Kinder halfen beim Feuerlöschen, als die Schießerei aufgehört hatte, denn die Erwachsenen trauten sich noch nicht auf die Straße. Plötzlich waren die Amerikaner im Dorf. Die Panzersperren, die wir Schüler in den Sportstunden errichtet hatten, waren für sie kein Hindernis.
Unter den einrückenden Truppen waren viele Deutschamerikaner. Auf dem Weg zur Molkerei sagte ein Soldat in akzentfreiem Deutsch zu mir: ,Na, junger Mann, willst du von mir Schokolade?’ Ich sagte nicht Nein. Als die Amerikaner durchgezogen waren, ging das Leben im Dorf unverändert weiter. Man war froh, ohne Angst wieder aufs Feld zu können.“
Samstag, 21. April 1945, Westerheim bei Laichingen
17 Tage vor Ende des Zweiten Weltkriegs bricht über Westerheim auf der Alb eine Katastrophe herein. Bei Kriegshandlungen zwischen amerikanischen und deutschen Truppen sterben 24 Menschen. Der gesamte Ortskern wird zerstört. Unter den Toten sind viele Frauen, die sich zum Gebet in der St.-Stephanuskirche eingefunden haben und Zuflucht suchen. 92 Häuser werden total zerstört, 103 Scheunen und Ställe stehen in Flammen.
Montag, 23. April 1945, Laupheim
Die Franzosen kommen! Schüsse und das Dröhnen von Motoren kündigen sie an. Die Menschen in Laupheim schließen Fenster und Türen, verkriechen sich angsterfüllt in die Keller. Gegen 18 Uhr sind sie da, Soldaten des 6. Regiments der Chasseurs d’Afrique. Ihre Panzer rasseln die Betonpiste vom bereits besetzten Flugplatz herunter. „Zur Abschreckung schossen sie mit den Maschinengewehren über die Dächer und in Häuserfassaden“, berichtet eine Augenzeugin. „Der Lärm war entsetzlich, Fensterscheiben klirrten und überall hörte man geschriene Befehle auf Französisch. Dann stürmten sie in die Häuser, um nach deutschen Soldaten zu suchen.