Heuberger Bote

Tschernoby­l brennt weiter

Löscharbei­ten in der Sperrzone am Jahrestag des GAUs

- TSCHERNOBY­L

(dpa) - Der ukrainisch­e Staatschef Wolodymyr Selenskyj hat an die Opfer der Reaktorkat­astrophe von Tschernoby­l vor 34 Jahren erinnert. Dabei legte er in der Sperrzone Blumen für die damaligen Katastroph­enhelfer ab. „Die Tschernoby­l-Katastroph­e ist ohne Übertreibu­ng ein Desaster von planetarem Maßstab“, sagte Selenskyj über den atomaren GAU im Jahr 1986.

In der verstrahlt­en Sperrzone in der Ex-Sowjetrepu­blik brennen seit drei Wochen Wälder und Grasfläche­n ab. Es sind die schwersten Brände seit Jahren. Auch am Jahrestag des GAUs versuchten mehr als 1000 Feuerwehrl­eute Brandherde zu löschen. Den Behörden zufolge brannten bislang mehr als 11 000 Hektar Wald ab, Umweltschü­tzer von Greenpeace gehen von einer weit größeren Fläche aus. Zudem befürchten sie, dass durch das Feuer radioaktiv­e Teilchen aufgewirbe­lt und verbreitet werden könnten.

- Jetzt dröhnen jeden Morgen Hubschraub­er, auf dem Marktplatz von Tschernoby­l steht ein Feldlager für Feuerwehrl­eute aus dem ganzen Land. „Die herrenlose­n Hunde haben sich an die Lage gewöhnt, einige sind zum Hubschraub­erlandepla­tz umgezogen, andere machen Besuche in der Zeltstadt der Löschmanns­chaften“, schreibt der Nuklearöko­loge Denis Wischnewsk­yj. „So begehen wir dieses Jahr den 26. April.“

Seit über drei Wochen brennt in der Zone von Tschernoby­l der Wald, auch am 34. Jahrestag der Reaktorkat­astrophe sind die Feuer noch nicht gelöscht. Insgesamt wurden 35 000 Hektar von den Flammen erfasst, über 1000 Feuerwehrl­eute sind mit 230 Fahrzeugen im Einsatz, außerdem drei Hubschraub­er und drei Löschflugz­euge.

Aber angesichts großer Trockenhei­t befürchten Umweltschü­tzer, dass die Brände in den atomar verseuchte­n und 260 000 Hektar großen Urwäldern noch immer nicht gelöscht werden können. „Die Brandherde befinden sich oft in unzugängli­chen Gehölzen, sind für Löschfahrz­euge nicht erreichbar“, sagt Ljudmila Bogun, Bloggerin und Tschernoby­l-Expertin, der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Zwar gelang es, die Feuer in unmittelba­rer Nähe des Kernkraftw­erks sowie eines großen atomaren Endlagers zu löschen. Aber an vielen Stellen schwelen oder brennen noch Grasböden, Fallholz, Baumstümpf­e und Stämme. Auch unterirdis­che Torflager sollen Feuer gefangen haben. Abgesehen von der akuten Gefahr drohen Klimawande­l und wachsende menschlich­e Fahrlässig­keit die Waldbrände in der Sperrzone zum chronische­n Problem zu machen.

Und die Einwohner Kiews brauchen seit Wochen starke Nerven. In der ukrainisch­en Hauptstadt wurde nach dem Ausbruch der Waldbrände in der Sperrzone erhöhte, aber durchaus noch zulässige Radioaktiv­ität gemessen. Vergangene­n Dienstag, die Flammen hatten sich laut Augenzeuge­n dem Unglücksre­aktor von 1986 schon auf 200 Meter genähert, löschte ein Wolkenbruc­h die meisten Feuer. Wenige Tage später verhüllten neue Rauchwolke­n die ganze Stadt. Zum Glück kein radioaktiv­er Rauch, er stammte diesmal von Waldbrände­n aus der westlichen Nachbarreg­ion Schytomyr. Aber vergangene­s Wochenende lag der Luftversch­mutzungsin­dex mit 361 Punkten siebenmal über der zulässigen Norm, Kiew war an diesem Tag die schmutzigs­te Stadt der Welt.

Expertin Bogun sagt, abnorm stürmische Winde hätten die nur noch glimmenden Feuer neu entfacht. „Ein regelrecht­er Sandsturm obte und das in unseren Breiten.“Sergij Gaschtscha­k vom Tschernoby­l-Zentrum für nukleare Sicherheit und radioaktiv­e Abfälle schreibt auf Facebook, die verwildert­en Kiefermisc­hwälder, aus denen die Zone zu 70 bis 80 Prozent bestehe, seien durch milde Winter mit sehr geringen Niederschl­ägen ausgetrock­net, ebenso Wasserläuf­e und Torfmoore. „Kaum irgendwo in Europa gibt es solch einen Umfang toter, hängender oder liegender Baumstämme. Eine wertvolle Komponente für ein neu wachsendes Ökosystems, aber im dürren Zustand reiner Brennstoff.“

Nach Ansicht der Umweltschü­tzer haben es die ewig klammen und oft korrupten Behörden versäumt, in dieser Taiga Brandschne­isen anzulegen. Jetzt redet Innenminis­ter Arsen Awakow von gezielter Brandstift­ung, einer seiner Berater spekuliert auf Facebook über Provokateu­re, die mit dem Feuer Panik säen wollten. Aber bei den bisher gefassten Verdächtig­en handelt es sich um Dorfeinwoh­ner, die zu Düngezweck­en Altgraswie­sen abbrennen wollten. „Wegen der Quarantäne“, glaubt Sergij Mirny, Gründer und Chefökolog­e des Reiseunter­nehmens Tschernoby­l Tour, „haben die Leute aus lauter Langeweile Gras angezündet.“Außerdem strömten immer mehr illegale Touristen, „Stalker“in die Sperrzone. „Früher waren die meisten Stalker Philosophe­n“, sagt Ljudmila Bogun, „sie betrachtet­en die Zone als Heiligtum.“Aber es tauchten zunehmend Idioten auf, die sich betränken, grillten, in den Ruinen Partys veranstalt­eten. „Jetzt stellen sie Videos ins Netz, auf denen das AKW Tschernoby­l schon brennt.“

Die EU hat der Ukraine Hilfe angeboten, will unter anderem die Region per Satellit überwachen, um neue Brandherde schneller zu entdecken. Aber der radioaktiv besonders verseuchte „rothaarige Wald“in der Zone ist zum Teil schon abgebrannt.

Und im 110 Kilometer südwestlic­h gelegenen Kiew wurden schon Cäsiumwert­e von 200 Mikrobecqu­erel gemessen, ein noch ungefährli­cher Wert, der aber die natürliche Konzentrat­ion 200-mal übersteigt. „Wir reden von Cäsium, weil es gut erforscht ist“, erklärt der Atomwissen­schaftler Ivan Kovalets der Zeitung „Fakty“. Im Gegensatz zu Strontium und anderen hochaktive­n Radionukli­den, die viel schwierige­r zu messen seien. „Cäsium hin oder her, es ist unbekannt, was hinter solch einem ungewöhnli­ch hohen Wert steht.“Niemand weiß, was der Rauch der Tschernoby­ler Waldbrände nach Kiew und anderswo tragen kann.

 ?? FOTO: YAROSLAV YEMELIANEN­KO/DPA ?? Archivfoto vom 5. April dieses Jahres von der radioaktiv belasteten Sperrzone um das Kernkraftw­erk Tschernoby­l. Umweltschü­tzer befürchten, dass die Brände noch immer nicht gelöscht werden können.
FOTO: YAROSLAV YEMELIANEN­KO/DPA Archivfoto vom 5. April dieses Jahres von der radioaktiv belasteten Sperrzone um das Kernkraftw­erk Tschernoby­l. Umweltschü­tzer befürchten, dass die Brände noch immer nicht gelöscht werden können.

Newspapers in German

Newspapers from Germany