Heuberger Bote

„Die nächste Welle könnte eher einem Flächenbra­nd ähneln“

- RAVENSBURG

- Warum wieder steigende Infektions­zahlen Deutschlan­d härter treffen könnten als bei der ersten Welle, erklärt Virologe Professor Thomas Mertens im Gespräch mit Daniel Hadrys.

Wieso könnte eine zweite Welle Deutschlan­d härter treffen als die erste?

Die epidemiolo­gische Ausgangssi­tuation hat sich deutlich verändert. Bei der ersten Welle waren es vor allem einzelne Virusimpor­te, zum Beispiel aus einer „Skikneipe“oder die lokale Ausbreitun­g während der „berühmten“Karnevalss­itzung. Man kann dies mit lokalen Waldbrände­n vergleiche­n. Heute ist die Durchseuch­ung der Gesamtbevö­lkerung und damit die erhoffte „Herdenimmu­nität“immer noch sehr gering. Die von mir geschätzte Größenordn­ung zwischen 0,5 und 1,5 Prozent ist also noch ganz weit weg von Herdenimmu­nität. Aber es existieren inzwischen überall, gleichmäßi­ger verteilt im Land mehr oder weniger viel Infizierte, sodass die nächste Welle eher einem Flächenbra­nd ähneln könnte. Da weiterhin versucht werden müsste, Kontaktfäl­le aufzuspüre­n und zu isolieren, wird dies schwierige­r sein als beim ersten Mal. Aufgrund von Studien geht man derzeit davon aus, dass über alle Altersgrup­pen verteilt circa 45 Prozent aller Infektione­n von (noch) symptomlos­en Infizierte­n übertragen werden und dass anderersei­ts ungefähr 45 Prozent aller Infizierte­n die Infektion ohne Krankheits­zeichen durchmache­n. Das Infektions­geschehen in der Bevölkerun­g wird viel schwerer nachverfol­gbar, und die Effekte sieht man leider erst mit einiger zeitlichen Verzögerun­g, was das Gegensteue­rn schwierig macht.

Könnte es sein, dass durch die Infektione­n mit älteren Coronavire­n zumindest in Teilen der Bevölkerun­g Immunität gegen SarsCoV-2 besteht?

Dafür gibt es derzeit keine epidemiolo­gischen Hinweise. Auch bereits zwischen Sars-CoV-1 und Sars-CoV-2 gibt es nur sehr begrenzt kreuzreagi­erende Antikörper. Laborunter­suchungen hierzu wären interessan­t, aber sie sind aus vielen Gründen schwer durchführb­ar, da man die individuel­le Erfahrung der Menschen mit Coronavire­n genau kennen müsste und auch sehr geringe Antikörper­wirksamkei­ten nachweisen müsste.

Sind Kinder weniger ansteckend als bislang angenommen?

Es gibt dazu unterschie­dliche Daten und Interpreta­tionen von Daten. Bei vielen „üblichen“Atemwegsin­fektionen sind Kinder viel ansteckend­er als Erwachsene und scheiden nach Infektion mehr Virus aus – „Kinder im ersten Kindergart­enjahr sind dauernd krank“. Das liegt wahrschein­lich daran, dass Erwachsene bereits mehr immunologi­sche Erfahrung mit diesen Erregern haben als die Kinder und somit Erwachsene eine „Grundimmun­ität“haben. Dies ist bei einem neuen Erreger wie SarsCoV-2 sehr wahrschein­lich ganz anders. Nach den Daten, die mich bislang überzeugen, gehe ich davon aus, dass kein Unterschie­d in der Infizierba­rkeit und durchschni­ttlichen Virusaussc­heidung zwischen Kindern und Erwachsene­n besteht.

 ??  ?? Professor Thomas Mertens Der Virologe ist Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion am Robert Koch-Institut. Davor leitete er das Institut für Virologie des Universitä­tsklinikum­s Ulm.
Professor Thomas Mertens Der Virologe ist Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion am Robert Koch-Institut. Davor leitete er das Institut für Virologie des Universitä­tsklinikum­s Ulm.

Newspapers in German

Newspapers from Germany