Salieri war nicht Mozarts Feind
Timo Jouko Herrmanns neue Biografie korrigiert notorische Vorurteile über den italienischen Komponisten
Es war Ende November 2015. Da schaute der Komponist, Dirigent und Musikwissenschaftler Timo Jouko Herrmann online in ein Buch von Daniel Smith hinein, das im Vorjahr erschienen war. Unter dem Titel „100 Things You Will Never Find“war hier neben Atlantis, dem Heiligen Gral und Nessie an 30. Position auch jene als verschollen geltende Gemeinschaftskantate aufgelistet, die laut einer Wiener Verlagsanzeige 1785 Antonio Salieri, Wolfgang A. Mozart und ein Dritter im Bunde mit dem Pseudonym „Cornetti“zur Genesung der damals als Star gefeierten Opernsängerin Nancy Storace komponiert haben.
Als ausgewiesener Salieri-Spezialist war Herrmann über diese im Köchel-Verzeichnis der MozartWerke unter der Nummer 477a geführte Kollektivkomposition bestens im Bilde. Ihr Auftauchen stand jedenfalls auf seinem Wunschzettel. Die Partitur hätte unabhängig davon, ob es sich um ein Gelegenheitsstück oder um ein gewichtigeres Opus gehandelt hat, einen Beweis dafür liefern können, dass Salieri und Mozart bisweilen zusammengearbeitet haben und sich somit nicht spinnefeind gewesen sind, wie das ein bis heute notorisch kursierendes Klischee gegen alle historische Evidenz glauben machen will.
Der Zufall wollte es, dass Herrman just einen Tag später auf genau jene als „unauffindbar“durch die Fachliteratur geisternde Kantate stieß, deren Existenz bis dahin sogar von manchen Forschern bezweifelt worden war. Bei einer Online-Recherche im Archivkatalog des Tschechischen Museums der Musik stolperte er über den Titel „Per la ricuperata salute di Ofelia“und war sofort elektrisiert. Sollte sich da tatsächlich das von dem berühmten Librettisten Lorenzo Da Ponte stammende Textbuch besagter Kantate erhalten haben? Allein das wäre schon eine Sensation gewesen!
Herrmann konnte kaum glauben, dass er einem gemeinsamen Werk der angeblich „größten Konkurrenten der Wiener Klassik“auf der Spur war, einem Phantom, nach dem Mozart-Forscher bislang vergeblich gefahndet hatten. Sofort bat er schriftlich um eine digitale Kopie des Librettos. Zu seiner Verblüffung enthielt das eingescannte Dokument nicht nur alle 30 Strophen von Da Pontes Dichtung, sondern als unscheinbaren Anhang auch die jeweiligen Vertonungen von Salieri,
Mozart und „Cornetti“in einer rudimentären Druckfassung für Sopran mit instrumentaler Basslinie.
Der spektakuläre Fund erregte schnell internationale Aufmerksamkeit. Als erstes Medium weltweit hat darüber die „Schwäbische Zeitung“in einem Beitrag des Autors dieser Zeilen berichtet (11. Januar 2016). Herrmanns Entdeckung förderte zwar kein Meisterwerk zutage, half aber, das verbreitete Zerrbild von „Amadeus“und seinem vermeintlichen Widersacher effektiver zu korrigieren. Endlich schien der Bann gebrochen, der zuvor bis in Fachkreise hinein die unvoreingenommene Bewertung von Salieris Werken abseits von reflexartig einrastenden MozartVergleichen verhindert hatte. Im vergangenen Jahr hat Herrmann nun eine neue Salieri-Biografie veröffentlicht, die den Meister und seine Musik in diesem Sinne umfassend porträtiert. Wie notwendig eine solche wissenschaftlich fundierte Darstellung und unabhängige Beurteilung zu sein scheint, zeigt sich auf Schritt und Tritt beim Blick in handelsübliche Ergüsse zu Leben und Werk des lange verleumdeten Tonkünstlers. So blamiert sich etwa das Internetportal „Klassik heute“immer noch mit einer hanebüchenen, allem Forschungsstand zum Trotz vor Fehlern, Unterstellungen und Unwissen strotzenden SalieriVita.
Herrmanns spannend zu lesendes Buch rückt solche Verfälschungen gründlich zurecht. Da begegnet man neben vielen unbekannten Personen aus dem beruflichen und privaten Umfeld des Komponisten immer wieder auch prominenten Größen der Musikgeschichte, die aber in diesem Kontext aus ungewohnter Perspektive geschildert werden. Herrmann hat Archive durchforstet, Tagebücher, Briefe und andere bisher kaum oder gar nicht beachtete Quellen gesichtet und eine Fülle von Fakten zusammengetragen, die Licht auch in wenig erforschte Bereiche von Salieris Leben bringen.
Schritt für Schritt wird dessen Weg nachvollzogen vom Geburtsort Legnago in der Provinz Verona über seine Lehrzeit in Venedig nach frühem Tod der Eltern und seine Entdeckung durch den Mentor Florian Leopold Gassmann, der den 16-jährigen Waisen nach Wien holte, über den Aufbau seiner dortigen Existenz, seine Zusammenarbeit mit Gluck, seine Auslandserfolge
in Italien und Paris bis hin zu seiner Position als Schlüsselfigur der Wiener Klassik und der jahrzehntelangen Präsenz seiner Opern auf Europas Bühnen.
Amüsante Episoden – etwa ein weinseliges Picknick an der Donau mit einem befreundeten Sänger, das von einem heranstürmenden wilden Eber abrupt beendet wird – werden anschaulich geschildert. Man erfährt aber auch von der Ehe des Tonsetzers mit der Wiener Bürgerstochter Theresia Helferstorfer, vom frühen Tod einiger seiner Kinder oder von einer schweren Lungenentzündung, an der Salieri im Frühjahr 1815 beinahe gestorben wäre. Der mit ihm befreundete Maler Ignace Duvivier hat damals eine Fiebertraumszene des Meisters im Kreise seiner Schüler gezeichnet.
Ausführlich würdigt Herrmann auch Salieris Verdienste als Lehrer von Beethoven, Reicha, Hummel, Schubert, Meyerbeer, Liszt und zahlreicher anderer Komponisten, seinen Einfluss auf spätere Kollegen wie Berlioz oder Gounod, sein Wirken als bedeutender Gesangspädagoge und als jahrzehntelange „Institution“des Wiener Musiklebens. Als Grundlage für eine differenzierte Einordnung von Salieris Schaffen zwischen letzten Ausläufern des Spätbarock und beginnender Romantik dient dem Biografen seine akribische Beschäftigung mit den Partituren und ihren verschiedenen Fassungen.
Kaum jemand dürfte über eine so profunde Kenntnis von Salieris Oeuvre verfügen wie Herrmann, der bereits 2015 eine umfangreiche Studie zu dessen deutschsprachigen Bühnenwerken vorgelegt hat. Bei den Walldorfer Musiktagen führte er im Herbst 2018 Salieris Philosophenoper „Eraclito e Democrito“auf. Auch sonst setzt er sich als Dirigent immer wieder für dessen Musik ein. Mit den Heidelberger Sinfonikern hat er unlängst ein Salieri-Album eingespielt, das seine Bearbeitung jener zusammen mit Mozart komponierten Genesungskantate und weitere persönliche Widmungsstücke enthält.