„Rate der Infizierten liegt vielleicht fünfbis zehnfach höher“
- In Deutschland haben sich nach Ergebnissen der sogenannten Heinsberg-Studie möglicherweise 1,8 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Dies ergebe eine Schätzung auf der Grundlage einer Modellrechnung, teilte die Universität Bonn am Montag mit. Die Studie war jedoch eine Zeit lang umstritten. Der Virologe Professor Thomas Mertens erläutert im Gespräch mit Daniel Hadrys einige der Ergebnisse.
Laut der Heinsberg-Studie, die den Sars-CoV-2-Ausbruch im nordrhein-westfälischen Gangelt untersuchte, könnten bis zu 1,8 Millionen Menschen in Deutschland infiziert sein. Für wie realistisch halten Sie dieses Ergebnis?
Die Größenordnung ist vernünftig, allerdings steckt noch eine gewisse Unsicherheit darin, da mit kleinen Zahlen hochgerechnet wird. Zum Verständnis müssen wir ein wenig rechnen: In dem nach Beginn der Epidemie abgeriegelten Ort Gangelt im Kreis Heinsberg wurde in einer repräsentativen Kohorte mit
919 Studienteilnehmern aus 405
Haushalten eine Infektionsrate von 15,5
Prozent bestimmt.
Dies kann man hochrechnen auf die
12 597
Einwohner des Ortes, was 1956
Infizierten entspricht.
Da in dem
Ort sieben Menschen an Covid-19 verstarben, errechnet man eine Sterberate bei tatsächlich Infizierten von 0,35 Prozent. Rechnet man mit den zu diesem Zeitpunkt gemeldeten 6565 Todesfällen in der Bundesrepublik hoch, so gelangt man zu den 1,8 Millionen Infizierten. Nehmen wir zum Beispiel an, dass nach Ende der Studie noch drei weitere Todesfälle bei noch stationären Patienten aufträten, dann wäre die Sterberate etwa 0,5 Prozent und die Zahl der errechneten Infizierten in Deutschland läge bei 1,3 Millionen.
Der Studie zufolge zeigten 22 Prozent der Infizierten keine Symptome. Deckt sich das mit den bisherigen Erkenntnissen?
Es sind eher weniger als in den bisher veröffentlichten Studien, in denen von etwa 40 Prozent asymptomatischen Fällen berichtet wird. Das kann unter Umständen an der hohen Aufmerksamkeit bei den Studienteilnehmern und der intensiven Datenerhebung bezüglich relativ leichter Symptome liegen. (zum Beispiel Riechverlust).
Welche Schlüsse könnten aus den Ergebnissen gezogen werden?
Mehrere interessante Schlüsse: Auch in Gangelt, wo ja recht intensiv getestet wurde, zeigte die Studie, dass die Rate der tatsächlich SarsCoV-2-Positiven fünffach höher war, als vor der Studie durch Tests im Rahmen der Epidemie bekannt war. Das Risiko, sich in einem gemeinsamen Haushalt anzustecken, war je nach Personenzahl zwar höher, aber deutlich geringer als erwartet – grob 20 bis 40 Prozent Infizierte, statt 15,5 Prozent im Durchschnitt. Infektionen erfolgten unabhängig vom Alter und Geschlecht gleichermaßen häufig – Häufigkeit und Schwere der Erkrankungen können natürlich weiter unterschiedlich sein. Eine weitere spannende Beobachtung ist, dass die Teilnehmer an der Karnevalsveranstaltung stärker erkrankten. Dies könnte darauf hindeuten, dass eine hohe Infektionsdosis ungünstig ist. Wir können davon ausgehen, dass die Rate der in Deutschland tatsächlich Infizierten zehnfach, vielleicht fünf- bis zehnfach, höher liegt als durch bisherige Testung bekannt.