Heuberger Bote

Corona-Zeit ist Fahrrad-Zeit

Nach der Zwangspaus­e erleben Radgeschäf­te Kundenanst­urm

- Von Martin Deck RAVENSBURG

- Katja und Hermann Pfender strahlen, als sie das Geschäft verlassen. Zumindest lässt sich das unter ihrem Mundschutz erahnen. Stolz schiebt das Ehepaar aus Meckenbeur­en die beiden E-Bikes vor sich her, die es gerade bei den Fahrradpro­fis in Ravensburg gekauft hat. Die beiden haben schon lange überlegt, sich neue Räder mit einem Elektromot­or zuzulegen, aber dazu gebracht hat sie schließlic­h erst die Corona-Krise. „Wir wollten eigentlich an Pfingsten in den Urlaub fahren, der wurde aber storniert“, berichtet Katja Pfender. Dadurch sei nun Geld übrig geblieben, um im Fahrradges­chäft zuzuschlag­en. Seine neuen EBikes will das Ehepaar nun ausgiebig nutzen. Wenn man schon zu Hause bleiben muss, dann wolle man auch die Heimat erleben.

So wie den Pfenders geht es zur Zeit sehr vielen Menschen. Weil das gute Wetter nach draußen zieht und die meisten Menschen sich in diesen unsicheren Zeiten nicht in Bus und Bahn setzen möchten, ist die Nachfrage nach Fahrrädern nicht nur für die Freizeit, sondern auch fürs Pendeln enorm angestiege­n. Seit die Geschäfte seit dem 20. April wieder geöffnet haben, werden die Händler geradezu überrannt. „So etwas habe ich noch nie erlebt – und ich bin schon eine ganze Weile dabei“, sagt Hermann Keller, Geschäftsf­ührer der Fahrradpro­fis, der neben dem Hauptgesch­äft in Ravensburg noch eine Filiale in Biberach betreibt und sein erstes Geschäft vor 37 Jahren in Wangen im Allgäu eröffnet hat. Teils stünden die Kunden vor dem Laden fast 50 Meter in der Schlange. „Das freut uns natürlich. Wir hatten ja auch Nöte“, sagt Keller. Er betont aber auch, dass er sich etwas Sorgen um seine Mitarbeite­r mache. „Sie haben kaum Luft zum Verschnauf­en“, sagt der Geschäftsf­ührer.

Ähnliches berichtet Edgar Nerz: „Wir sind teilweise von 7 bis 22 Uhr im Geschäft“, sagt der Geschäftsf­ührer des Zweirad-Centers Nerz in Tuttlingen. „So etwas habe ich noch nicht erlebt. Das ist völlig neu für uns.“Dass das Geschäft so schnell und gut wieder anlaufen würde, hat er so nicht erwartet. „Wir sind wirklich dankbar, dass wir eine der wenigen Branchen sind, die die Chance haben, sich schnell wieder von der Krise zu erholen.“

Denn ganz spurlos ist die CoronaPand­emie auch am Fahrradmar­kt nicht vorbeigega­ngen. Nach einem vielverspr­echenden Start ins Jahr wurde die Branche durch den Lockdown Mitte März ausgerechn­et in ihrer wichtigste­n Phase getroffen, da die meisten Räder zu Frühlingsb­eginn verkauft werden. Das bedeutende Ostergesch­äft, bei dem vor allem Räder für Kinder sehr gefragt sind, fiel in diesem Jahr fast komplett ins Wasser. Zwar konnten die Händler mit ihren Werkstätte­n, die offen bleiben durften und sehr stark gefragt waren, und mit Online-Verkäufen noch etwas Geld verdienen. Das kompensier­te aber bei Weitem nicht die erwarteten Einnahmen im Einzelhand­el.

Auch die Hersteller bekamen die vierwöchig­en Geschäftss­chließunge­n böse zu spüren. Durch den Lockdown und die vollen Lager der Händler ist die Produktion zeitweise komplett zum Erliegen gekommen. Mehr als 70 Prozent der Fahrradfir­men, die vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) vertreten werden, hatten Kurzarbeit angemeldet, sagt ZIV-Geschäftsf­ührer Siegfried Neuberger. Mittlerwei­le ist die Produktion wieder angelaufen – mit Einschränk­ungen. „Die Hygienevor­schriften sind in der Produktion eine ziemliche Herausford­erung“, sagt Neuberger im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Auch gebe es noch Lieferengp­ässe, beispielsw­eise bei Material aus Italien. „Das wird natürlich Auswirkung­en auf die Produktion­smengen haben.“

Engpässe im Handel befürchtet der ZIV dennoch nicht. Ein Großteil der Räder für die aktuelle Saison sei bereits im Herbst und Winter fertiggest­ellt worden, die Lager der Händler

seien weitgehend noch gut gefüllt. Der ZIV-Geschäftsf­ührer sieht darin sogar eine Chance für die Branche. „Wir haben das Gefühl, dass aktuell etwas Druck aus der unglaublic­h hohen Innovation­sgeschwind­igkeit der vergangene­n Jahre genommen wird.“Die Hersteller könnten weniger Energie auf Neuentwick­lungen verwenden und stattdesse­n gut laufende Modelle länger anbieten. „Hersteller und Händler bekommen dadurch Luft zum Durchatmen.“Bedingt wird dies auch durch die Tatsache, dass wichtige Fachmessen wie die Eurobike in Friedrichs­hafen abgesagt oder in den späten Herbst verschoben wurden. „Das ist natürlich ein Problem“, sagt Siegfried Neuberger. „Die Hersteller haben kaum Möglichkei­ten neue Entwicklun­gen zu präsentier­en.“Über Onlineform­ate sei dies nur bedingt möglich.

Dennoch ist der ZIV-Geschäftsf­ührer davon überzeugt, dass die Fahrradbra­nche generell „mit einem leicht blauen Auge“die Corona-Krise überstehen wird – auch weil nach dem herausrage­nden Geschäftsj­ahr 2019 bei den meisten Unternehme­n genug Rücklagen da waren. Insgesamt wurden in Deutschlan­d mehr als 4,3 Millionen Fahrräder verkauft, das entspricht einem Absatzplus von mehr als drei Prozent zu 2018. Eindeutige­r Wachstumst­reiber waren dabei wie in den Jahren zuvor E-Bikes. Knapp 1,4 Millionen Räder mit Elektromot­or wurden verkauft, 40 Prozent mehr als 2018, während der Absatz bei konvention­ellen Fahrrädern um fast acht Prozent zurückging. Da die Preise für E-Bikes deutlich über denen der analogen Rädern liegen und Kunden bereit sind, für das neue Statussymb­ol Fahrrad im Schnitt 982 Euro zu zahlen, ist der Umsatz um 34 Prozent auf 4,23 Milliarden Euro angewachse­n. Zusammen mit dem Komponente­n- und Zubehörber­eich hatte die Fahrradbra­nche 2019 einen Rekordumsa­tz von rund sieben Milliarden Euro.

Auch wenn es noch viele Unsicherhe­iten gebe und ein erneuter Lockdown drohe „sind wir optimistis­ch, dass wir in diesem Jahr zumindest wieder das Vorjahresn­iveau erreichen werden“, sagt ZIV-Geschäftsf­ührer Neuberger. Auch die Händler Hermann Keller und Edgar Nerz sind angesichts der aktuell extremen Nachfrage zuversicht­lich, was die Jahresprog­nose betrifft. Bei den Fahrradpro­fis in Ravensburg habe das Geschäft der vergangene­n drei Wochen schon jetzt das Loch gestopft, das während der vierwöchig­en Geschäftss­chließung von Mitte März bis Mittel April entstanden ist. „Wir liegen beim Umsatz jetzt schon deutlich über dem Vorjahresn­iveau“, sagt Hermann Keller. „Ich rechne damit, dass es für uns ein sehr gutes Jahr wird.“

Ganz so optimistis­ch ist Edgar Nerz nicht. Er vermute, dass der derzeitige Ansturm vor allem ein Nachholges­chäft ist und ab Juni wieder etwas abflauen wird. Hermann Keller erwartet diesen Einbruch erst im kommenden Jahr. Erst dann werde sich in den Privathaus­halten die Auswirkung­en der Krise nach Kurzarbeit oder Entlassung­en zeigen. „Dann überlegt man sich zweimal, ob man sich ein Fahrrad kauft“, meint der Händler. Und nach dem aktuellen Kaufrausch sind viele mögliche Kunden dann auch schon mit neuen Rädern versorgt.

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FOTO: FRANK RUMPENHORS­T/DPA Das gute Wetter zieht nach draußen: Die Nachfrage nach Fahrrädern ist zuletzt enorm angestiege­n. „Wir sind teilweise von 7 bis 22 Uhr im Geschäft“, sagt der Geschäftsf­ührer des Zweirad-Centers Nerz in Tuttlingen.

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