Corona-Zeit ist Fahrrad-Zeit
Nach der Zwangspause erleben Radgeschäfte Kundenansturm
- Katja und Hermann Pfender strahlen, als sie das Geschäft verlassen. Zumindest lässt sich das unter ihrem Mundschutz erahnen. Stolz schiebt das Ehepaar aus Meckenbeuren die beiden E-Bikes vor sich her, die es gerade bei den Fahrradprofis in Ravensburg gekauft hat. Die beiden haben schon lange überlegt, sich neue Räder mit einem Elektromotor zuzulegen, aber dazu gebracht hat sie schließlich erst die Corona-Krise. „Wir wollten eigentlich an Pfingsten in den Urlaub fahren, der wurde aber storniert“, berichtet Katja Pfender. Dadurch sei nun Geld übrig geblieben, um im Fahrradgeschäft zuzuschlagen. Seine neuen EBikes will das Ehepaar nun ausgiebig nutzen. Wenn man schon zu Hause bleiben muss, dann wolle man auch die Heimat erleben.
So wie den Pfenders geht es zur Zeit sehr vielen Menschen. Weil das gute Wetter nach draußen zieht und die meisten Menschen sich in diesen unsicheren Zeiten nicht in Bus und Bahn setzen möchten, ist die Nachfrage nach Fahrrädern nicht nur für die Freizeit, sondern auch fürs Pendeln enorm angestiegen. Seit die Geschäfte seit dem 20. April wieder geöffnet haben, werden die Händler geradezu überrannt. „So etwas habe ich noch nie erlebt – und ich bin schon eine ganze Weile dabei“, sagt Hermann Keller, Geschäftsführer der Fahrradprofis, der neben dem Hauptgeschäft in Ravensburg noch eine Filiale in Biberach betreibt und sein erstes Geschäft vor 37 Jahren in Wangen im Allgäu eröffnet hat. Teils stünden die Kunden vor dem Laden fast 50 Meter in der Schlange. „Das freut uns natürlich. Wir hatten ja auch Nöte“, sagt Keller. Er betont aber auch, dass er sich etwas Sorgen um seine Mitarbeiter mache. „Sie haben kaum Luft zum Verschnaufen“, sagt der Geschäftsführer.
Ähnliches berichtet Edgar Nerz: „Wir sind teilweise von 7 bis 22 Uhr im Geschäft“, sagt der Geschäftsführer des Zweirad-Centers Nerz in Tuttlingen. „So etwas habe ich noch nicht erlebt. Das ist völlig neu für uns.“Dass das Geschäft so schnell und gut wieder anlaufen würde, hat er so nicht erwartet. „Wir sind wirklich dankbar, dass wir eine der wenigen Branchen sind, die die Chance haben, sich schnell wieder von der Krise zu erholen.“
Denn ganz spurlos ist die CoronaPandemie auch am Fahrradmarkt nicht vorbeigegangen. Nach einem vielversprechenden Start ins Jahr wurde die Branche durch den Lockdown Mitte März ausgerechnet in ihrer wichtigsten Phase getroffen, da die meisten Räder zu Frühlingsbeginn verkauft werden. Das bedeutende Ostergeschäft, bei dem vor allem Räder für Kinder sehr gefragt sind, fiel in diesem Jahr fast komplett ins Wasser. Zwar konnten die Händler mit ihren Werkstätten, die offen bleiben durften und sehr stark gefragt waren, und mit Online-Verkäufen noch etwas Geld verdienen. Das kompensierte aber bei Weitem nicht die erwarteten Einnahmen im Einzelhandel.
Auch die Hersteller bekamen die vierwöchigen Geschäftsschließungen böse zu spüren. Durch den Lockdown und die vollen Lager der Händler ist die Produktion zeitweise komplett zum Erliegen gekommen. Mehr als 70 Prozent der Fahrradfirmen, die vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) vertreten werden, hatten Kurzarbeit angemeldet, sagt ZIV-Geschäftsführer Siegfried Neuberger. Mittlerweile ist die Produktion wieder angelaufen – mit Einschränkungen. „Die Hygienevorschriften sind in der Produktion eine ziemliche Herausforderung“, sagt Neuberger im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Auch gebe es noch Lieferengpässe, beispielsweise bei Material aus Italien. „Das wird natürlich Auswirkungen auf die Produktionsmengen haben.“
Engpässe im Handel befürchtet der ZIV dennoch nicht. Ein Großteil der Räder für die aktuelle Saison sei bereits im Herbst und Winter fertiggestellt worden, die Lager der Händler
seien weitgehend noch gut gefüllt. Der ZIV-Geschäftsführer sieht darin sogar eine Chance für die Branche. „Wir haben das Gefühl, dass aktuell etwas Druck aus der unglaublich hohen Innovationsgeschwindigkeit der vergangenen Jahre genommen wird.“Die Hersteller könnten weniger Energie auf Neuentwicklungen verwenden und stattdessen gut laufende Modelle länger anbieten. „Hersteller und Händler bekommen dadurch Luft zum Durchatmen.“Bedingt wird dies auch durch die Tatsache, dass wichtige Fachmessen wie die Eurobike in Friedrichshafen abgesagt oder in den späten Herbst verschoben wurden. „Das ist natürlich ein Problem“, sagt Siegfried Neuberger. „Die Hersteller haben kaum Möglichkeiten neue Entwicklungen zu präsentieren.“Über Onlineformate sei dies nur bedingt möglich.
Dennoch ist der ZIV-Geschäftsführer davon überzeugt, dass die Fahrradbranche generell „mit einem leicht blauen Auge“die Corona-Krise überstehen wird – auch weil nach dem herausragenden Geschäftsjahr 2019 bei den meisten Unternehmen genug Rücklagen da waren. Insgesamt wurden in Deutschland mehr als 4,3 Millionen Fahrräder verkauft, das entspricht einem Absatzplus von mehr als drei Prozent zu 2018. Eindeutiger Wachstumstreiber waren dabei wie in den Jahren zuvor E-Bikes. Knapp 1,4 Millionen Räder mit Elektromotor wurden verkauft, 40 Prozent mehr als 2018, während der Absatz bei konventionellen Fahrrädern um fast acht Prozent zurückging. Da die Preise für E-Bikes deutlich über denen der analogen Rädern liegen und Kunden bereit sind, für das neue Statussymbol Fahrrad im Schnitt 982 Euro zu zahlen, ist der Umsatz um 34 Prozent auf 4,23 Milliarden Euro angewachsen. Zusammen mit dem Komponenten- und Zubehörbereich hatte die Fahrradbranche 2019 einen Rekordumsatz von rund sieben Milliarden Euro.
Auch wenn es noch viele Unsicherheiten gebe und ein erneuter Lockdown drohe „sind wir optimistisch, dass wir in diesem Jahr zumindest wieder das Vorjahresniveau erreichen werden“, sagt ZIV-Geschäftsführer Neuberger. Auch die Händler Hermann Keller und Edgar Nerz sind angesichts der aktuell extremen Nachfrage zuversichtlich, was die Jahresprognose betrifft. Bei den Fahrradprofis in Ravensburg habe das Geschäft der vergangenen drei Wochen schon jetzt das Loch gestopft, das während der vierwöchigen Geschäftsschließung von Mitte März bis Mittel April entstanden ist. „Wir liegen beim Umsatz jetzt schon deutlich über dem Vorjahresniveau“, sagt Hermann Keller. „Ich rechne damit, dass es für uns ein sehr gutes Jahr wird.“
Ganz so optimistisch ist Edgar Nerz nicht. Er vermute, dass der derzeitige Ansturm vor allem ein Nachholgeschäft ist und ab Juni wieder etwas abflauen wird. Hermann Keller erwartet diesen Einbruch erst im kommenden Jahr. Erst dann werde sich in den Privathaushalten die Auswirkungen der Krise nach Kurzarbeit oder Entlassungen zeigen. „Dann überlegt man sich zweimal, ob man sich ein Fahrrad kauft“, meint der Händler. Und nach dem aktuellen Kaufrausch sind viele mögliche Kunden dann auch schon mit neuen Rädern versorgt.