An der Schmerzgrenze
Den Gesundheitsämtern fehlt das nötige Personal, um die Corona-Krise zu bewältigen – dabei nehmen sie eine Schlüsselrolle im Kampf gegen das Virus ein
Alles beginnt mit einem Anruf aus einer Arztpraxis im Landkreis Ravensburg. Es ist Anfang März. Seit Wochen tobt das Coronavirus bereits in Italien. Mailand, Venedig und Padua sind zu Sperrzonen erklärt worden. Auch im Ravensburger Gesundheitsamt beobachtet man die Lage mit Sorge. Am Telefon der Behörde meldet sich ein Mediziner: Bei einem seiner Patienten besteht der Verdacht auf eine Infektion. Der Leiter des Gesundheitsamts macht sich auf den Weg. Bei dem ersten Fall in seinem Kreis will er sich selbst ein Bild von der Lage machen. Kurze Zeit später steht fest: positiv. Der 50-Jährige muss in Quarantäne und mit ihm 28 Kontaktpersonen. Eine ganze Schulklasse wird sicherheitshalber vorübergehend nach Hause geschickt.
Tagelang hatten sich die Verantwortlichen im Landratsamt auf dieses Szenario vorbereitet. Einrichtung eines Krisenstabs, Pläne zur Materialversorgung der Krankenhäuser, Einführung von Krisenregelungen. An diesem Donnerstag im März wird aus der Phase der Vorbereitung eine Aktionsphase. Wenig später nach dem positiven Testergebnis wird Kreisgesundheitsamtsleiter Michael Föll in Fernsehkameras sagen: „Das bedeutet schlicht sehr viel Arbeit für uns.“Damit sollte er recht behalten. Das Coronavirus zieht wie ein Regenschauer über das Land. Zuerst mit wenigen Tropfen, kurze Zeit später mit lautem Prasseln.
Seither arbeiten die Mitarbeiter im Gesundheitsamt am Anschlag – nicht nur in Ravensburg, sondern in ganz Deutschland. Ihre Mission: die Infektionsketten unterbrechen. Trifft eine neue Positivmeldung aus dem Labor ein, erfassen die Mitarbeiter alle Daten des Infizierten, fragen ab, mit welchen Menschen dieser in den zwei Tagen seit den ersten Symptomen Kontakt hatte, erfassen wiederum deren Daten und kontaktieren alle Kontaktpersonen per Brief. Eingeteilt werden diese dabei in drei Kategorien: Hatte eine Kontaktperson länger als 15 Minuten einen sogenannten Face-to-face-Kontakt – also weniger als einen Meter Abstand – mit einem Infizierten, führen ihn die Mitarbeiter des Gesundheitsamts als Kategorie-I-Kontaktperson. Die Folge: Quarantäne. Damit allein ist es nicht getan. Viele der Betroffenen haben Rückfragen. Auch diese Anrufe landen wieder bei den Mitarbeitern des Gesundheitsamts.
Elisabeth Rzonca koordiniert das sogenannte Contact-Tracing im Gesundheitsamt Ravensburg. „Das ist eine Herausforderung“, sagt sie. Zu Beginn der Pandemie habe es Infizierte mit bis zu 300 Kontaktpersonen gegeben – von denen jede einzelne erfasst werden musste. Personell ist das nicht mehr zu stemmen. Schon bald geben Kollegen aus anderen Bereichen des Landratsamtes, wie dem Veterinäramt, dem Bau- und Umweltamt oder dem Jobcenter, Kontaktpersonen ins System ein. Zeitweise verdoppelt sich die Anzahl der Mitarbeiter im Gesundheitsamt annähernd, um die stetig steigende Zahl an Infizierten zu erfassen. Bis zu einhundert Kollegen besetzen das Callcenter der Behörde, um die Bürgerhotline am Laufen zu halten. Währenddessen steigen die Fallzahlen weiter. Ganze Reisebusse mit Rückkehrern aus Ischgl oder anderen Skiregionen habe man erfasst. „Es gab Tage, da wusste man abends nicht, wo einem der Kopf steht“, sagt Rzonca. Bis Mitte Mai sind es mehr als 550 Infizierte im Landkreis. Hinzu kommt eine Vielzahl von Kontaktpersonen, die im System erfasst werden – im Durchschnitt zehn pro Infiziertem. Und nicht jedem von ihnen passt die Quarantäne-Anordnung. Auch wenn sich der Großteil der Menschen an die Vorgaben gehalten habe, mussten die Mitarbeiter im Gesundheitsamt auch mit der ein oder anderen Beschwerde von Betroffenen umgehen, die ihre Quarantäne nicht akzeptieren wollten. Eine Frau habe etwa über den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Anweisung verhandeln wollen. Ihr Argument, so Rzonca: Der gelbe Sack müsse noch dringend weggebracht werden.
Dabei war den Gesundheitsämtern Unterstützung zugesagt worden. Mehr als 400 sogenannte Containment Scouts hat das Robert-Koch-Institut (RKI) bundesweit eingestellt. Diese vom RKI kurzfristig geschulten Kräfte sollen die lokalen Gesundheitsämter beim Contact-Tracing unterstützen und den Mitarbeitern aus Veterinäramt oder Jobcenter wieder ermöglichen, ihrer eigentlichen Tätigkeit nachzukommen. Doch angekommen von der Hilfe ist in Ravensburg noch nichts – obwohl Bedarf angemeldet worden sei. Ähnliches melden etwa die Landkreise Tuttlingen und Sigmaringen. Im Landkreis Biberach ist zumindest ein Mitarbeiter des RKI tätig. Bislang stemmen viele Landratsämter im Süden die Krise völlig aus eigener Kraft – und gehen dabei an ihre Grenzen. Seit Anfang März seien „erhebliche Überstunden entstanden“, heißt es aus dem Landratsamt Ravensburg. Genaue Zahlen will man nicht nennen. Biberach meldet mehr als 4000 coronabedingte Überstunden im Landratsamt. Keine Einzelfälle: Laut einer aktuellen Umfrage von NDR und WDR sind zahlreiche Gesundheitsämter in Deutschland unterbesetzt. 119 von 178 Behörden, die an der Befragung teilgenommen haben, gaben an, nicht über die von Bund und Ländern geforderten fünf Mitarbeiter pro 20 000 Einwohner zu verfügen, um die Infektionswege effizient nachzuvollziehen.
Bis Ende Mai, so die Ankündigung von Landesgesundheitsminister Manne Lucha (Grüne), will Baden-Württemberg die Zahl der Mitarbeiter für die Kontaktnachverfolgung von rund 462 auf 3000 aufstocken. Rekrutiert werden sollen diese laut einem Strategiepapier des Landessozialministeriums unter anderem aus pensionierten Beamten, Studenten und externen Dienstleistern. Zusätzlich haben sich laut Ministerium rund 120 Ärzte im Land für einen Dienst in den Gesundheitsämtern gemeldet. „Wir gehen davon aus, dass diese Ressourcen den Gesundheitsämtern in den kommenden Tagen zugehen“, heißt es auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“aus dem Ministerium. Doch für ein Aufatmen in den Landratsämtern sorgt diese Ankündigung nicht. Denn für die Einweisung in die speziellen Gegebenheiten in den einzelnen Gesundheitsämtern sind wieder Rzonca und ihre Kollegen zuständig. „Es heißt immer, da sollen Scouts kommen. Ja, und die kommen dann und können das dann schon alles?“, fragt Rzonca. „Die Arbeit, die wir hier das ganze Jahr leisten, erfordert ein bisschen Kenntnis und Erfahrung.“
Trotz des zusätzlichen Personals werden auch die hausinternen Mitarbeiter aus dem Landratsamt weiterhin eine bedeutende Rolle spielen müssen. Ein Grund, warum die Termine etwa für eine KfzZulassung derzeit rar sind. Ein Problem, das man nicht nur im Landkreis Ravensburg kennt. „Dauerhaft ist es natürlich nicht möglich, derart viele Mitarbeiter aus anderen Bereichen abzuziehen, weil sie ja auch dort notwendige Aufgaben erfüllen“, erklärt etwa Frank Veser, Sozialdezernent im Landkreis Sigmaringen. „Um die Nachverfolgung langfristig leisten zu können, benötigen wir dauerhaft mehr Personal im Gesundheitsamt – allen voran medizinisches Fachpersonal.“Zudem bleiben etwa im Landkreis Ravensburg einzelne Außenstellen der Kfz-Zulassung deshalb geschlossen, weil sie die Hygienevorgaben für die Mitarbeiter – wie den ausreichenden Abstand am Arbeitsplatz – nicht umsetzen können.
Auch von einer Tracing-App, die derzeit entwickelt wird und Kontakte von infizierten Personen automatisch erfassen soll, verspricht sich die Hygieneinspektorin Rzonca nicht viel. Das sei nur ein weiterer Kanal, wie Daten zum Gesundheitsamt kommen. Die Arbeit, die Personen zu kontaktieren, bleibe voraussichtlich bei den Gesundheitsämtern.
Mittlerweile sind die Fallzahlen im Landkreis Ravensburg deutlich gefallen. Weil die Ausgangsbeschränkungen Wirkung gezeigt haben und die Mitarbeiter des Gesundheitsamtes gemeinsam mit den Städten und Gemeinden effektiv Infektionsketten unterbrochen haben. „Auf das, was wir in der kurzen Zeit alles geleistet haben, können wir stolz sein“, sagt Rzonca.
Als in Berlin Lockerungen beschlossen wurden, sei die Stimmung in Rzoncas Abteilung „gemischt“gewesen. Denn die Belastung in den Gesundheitsämtern bleibt auch mit weniger Neuinfektionen hoch. „Wir befassen uns gerade sehr stark mit Anfragen von draußen, zum Beispiel von Schulen“, erklärt Rzonca. Welche Vorschriften müssen eingehalten werden? Wie müssen die Schultoiletten aussehen? „Die Nächsten, die in der Warteschleife stehen, ist die Gastronomie“, so Rzonca. „Ständig muss man sehen, was das Auswärtige Amt, das Schulamt oder die Regierung veröffentlicht. Das ist für alle stressig.“Auch weil die Verordnungen quasi jeden Tag länger werden. Und dann sind da noch übergeordnete Behörden, die immer detailliertere Statistiken fordern – zum Beispiel über Erkrankungsfälle in Heimen. Und jeden Tag flattern neue Verdachtsfälle herein. „Wir sind“, sagt Elisabeth Rzonca, „noch nicht durch.“
„Es gab Tage, da wusste man abends nicht, wo einem der Kopf steht.“
Elisabeth Rzonca vom Gesundheitsamt Ravensburg