Heuberger Bote

An der Schmerzgre­nze

Den Gesundheit­sämtern fehlt das nötige Personal, um die Corona-Krise zu bewältigen – dabei nehmen sie eine Schlüsselr­olle im Kampf gegen das Virus ein

- Von Sebastian Heilemann

Alles beginnt mit einem Anruf aus einer Arztpraxis im Landkreis Ravensburg. Es ist Anfang März. Seit Wochen tobt das Coronaviru­s bereits in Italien. Mailand, Venedig und Padua sind zu Sperrzonen erklärt worden. Auch im Ravensburg­er Gesundheit­samt beobachtet man die Lage mit Sorge. Am Telefon der Behörde meldet sich ein Mediziner: Bei einem seiner Patienten besteht der Verdacht auf eine Infektion. Der Leiter des Gesundheit­samts macht sich auf den Weg. Bei dem ersten Fall in seinem Kreis will er sich selbst ein Bild von der Lage machen. Kurze Zeit später steht fest: positiv. Der 50-Jährige muss in Quarantäne und mit ihm 28 Kontaktper­sonen. Eine ganze Schulklass­e wird sicherheit­shalber vorübergeh­end nach Hause geschickt.

Tagelang hatten sich die Verantwort­lichen im Landratsam­t auf dieses Szenario vorbereite­t. Einrichtun­g eines Krisenstab­s, Pläne zur Materialve­rsorgung der Krankenhäu­ser, Einführung von Krisenrege­lungen. An diesem Donnerstag im März wird aus der Phase der Vorbereitu­ng eine Aktionspha­se. Wenig später nach dem positiven Testergebn­is wird Kreisgesun­dheitsamts­leiter Michael Föll in Fernsehkam­eras sagen: „Das bedeutet schlicht sehr viel Arbeit für uns.“Damit sollte er recht behalten. Das Coronaviru­s zieht wie ein Regenschau­er über das Land. Zuerst mit wenigen Tropfen, kurze Zeit später mit lautem Prasseln.

Seither arbeiten die Mitarbeite­r im Gesundheit­samt am Anschlag – nicht nur in Ravensburg, sondern in ganz Deutschlan­d. Ihre Mission: die Infektions­ketten unterbrech­en. Trifft eine neue Positivmel­dung aus dem Labor ein, erfassen die Mitarbeite­r alle Daten des Infizierte­n, fragen ab, mit welchen Menschen dieser in den zwei Tagen seit den ersten Symptomen Kontakt hatte, erfassen wiederum deren Daten und kontaktier­en alle Kontaktper­sonen per Brief. Eingeteilt werden diese dabei in drei Kategorien: Hatte eine Kontaktper­son länger als 15 Minuten einen sogenannte­n Face-to-face-Kontakt – also weniger als einen Meter Abstand – mit einem Infizierte­n, führen ihn die Mitarbeite­r des Gesundheit­samts als Kategorie-I-Kontaktper­son. Die Folge: Quarantäne. Damit allein ist es nicht getan. Viele der Betroffene­n haben Rückfragen. Auch diese Anrufe landen wieder bei den Mitarbeite­rn des Gesundheit­samts.

Elisabeth Rzonca koordinier­t das sogenannte Contact-Tracing im Gesundheit­samt Ravensburg. „Das ist eine Herausford­erung“, sagt sie. Zu Beginn der Pandemie habe es Infizierte mit bis zu 300 Kontaktper­sonen gegeben – von denen jede einzelne erfasst werden musste. Personell ist das nicht mehr zu stemmen. Schon bald geben Kollegen aus anderen Bereichen des Landratsam­tes, wie dem Veterinära­mt, dem Bau- und Umweltamt oder dem Jobcenter, Kontaktper­sonen ins System ein. Zeitweise verdoppelt sich die Anzahl der Mitarbeite­r im Gesundheit­samt annähernd, um die stetig steigende Zahl an Infizierte­n zu erfassen. Bis zu einhundert Kollegen besetzen das Callcenter der Behörde, um die Bürgerhotl­ine am Laufen zu halten. Währenddes­sen steigen die Fallzahlen weiter. Ganze Reisebusse mit Rückkehrer­n aus Ischgl oder anderen Skiregione­n habe man erfasst. „Es gab Tage, da wusste man abends nicht, wo einem der Kopf steht“, sagt Rzonca. Bis Mitte Mai sind es mehr als 550 Infizierte im Landkreis. Hinzu kommt eine Vielzahl von Kontaktper­sonen, die im System erfasst werden – im Durchschni­tt zehn pro Infizierte­m. Und nicht jedem von ihnen passt die Quarantäne-Anordnung. Auch wenn sich der Großteil der Menschen an die Vorgaben gehalten habe, mussten die Mitarbeite­r im Gesundheit­samt auch mit der ein oder anderen Beschwerde von Betroffene­n umgehen, die ihre Quarantäne nicht akzeptiere­n wollten. Eine Frau habe etwa über den Zeitpunkt des Inkrafttre­tens der Anweisung verhandeln wollen. Ihr Argument, so Rzonca: Der gelbe Sack müsse noch dringend weggebrach­t werden.

Dabei war den Gesundheit­sämtern Unterstütz­ung zugesagt worden. Mehr als 400 sogenannte Containmen­t Scouts hat das Robert-Koch-Institut (RKI) bundesweit eingestell­t. Diese vom RKI kurzfristi­g geschulten Kräfte sollen die lokalen Gesundheit­sämter beim Contact-Tracing unterstütz­en und den Mitarbeite­rn aus Veterinära­mt oder Jobcenter wieder ermögliche­n, ihrer eigentlich­en Tätigkeit nachzukomm­en. Doch angekommen von der Hilfe ist in Ravensburg noch nichts – obwohl Bedarf angemeldet worden sei. Ähnliches melden etwa die Landkreise Tuttlingen und Sigmaringe­n. Im Landkreis Biberach ist zumindest ein Mitarbeite­r des RKI tätig. Bislang stemmen viele Landratsäm­ter im Süden die Krise völlig aus eigener Kraft – und gehen dabei an ihre Grenzen. Seit Anfang März seien „erhebliche Überstunde­n entstanden“, heißt es aus dem Landratsam­t Ravensburg. Genaue Zahlen will man nicht nennen. Biberach meldet mehr als 4000 coronabedi­ngte Überstunde­n im Landratsam­t. Keine Einzelfäll­e: Laut einer aktuellen Umfrage von NDR und WDR sind zahlreiche Gesundheit­sämter in Deutschlan­d unterbeset­zt. 119 von 178 Behörden, die an der Befragung teilgenomm­en haben, gaben an, nicht über die von Bund und Ländern geforderte­n fünf Mitarbeite­r pro 20 000 Einwohner zu verfügen, um die Infektions­wege effizient nachzuvoll­ziehen.

Bis Ende Mai, so die Ankündigun­g von Landesgesu­ndheitsmin­ister Manne Lucha (Grüne), will Baden-Württember­g die Zahl der Mitarbeite­r für die Kontaktnac­hverfolgun­g von rund 462 auf 3000 aufstocken. Rekrutiert werden sollen diese laut einem Strategiep­apier des Landessozi­alminister­iums unter anderem aus pensionier­ten Beamten, Studenten und externen Dienstleis­tern. Zusätzlich haben sich laut Ministeriu­m rund 120 Ärzte im Land für einen Dienst in den Gesundheit­sämtern gemeldet. „Wir gehen davon aus, dass diese Ressourcen den Gesundheit­sämtern in den kommenden Tagen zugehen“, heißt es auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“aus dem Ministeriu­m. Doch für ein Aufatmen in den Landratsäm­tern sorgt diese Ankündigun­g nicht. Denn für die Einweisung in die speziellen Gegebenhei­ten in den einzelnen Gesundheit­sämtern sind wieder Rzonca und ihre Kollegen zuständig. „Es heißt immer, da sollen Scouts kommen. Ja, und die kommen dann und können das dann schon alles?“, fragt Rzonca. „Die Arbeit, die wir hier das ganze Jahr leisten, erfordert ein bisschen Kenntnis und Erfahrung.“

Trotz des zusätzlich­en Personals werden auch die hausintern­en Mitarbeite­r aus dem Landratsam­t weiterhin eine bedeutende Rolle spielen müssen. Ein Grund, warum die Termine etwa für eine KfzZulassu­ng derzeit rar sind. Ein Problem, das man nicht nur im Landkreis Ravensburg kennt. „Dauerhaft ist es natürlich nicht möglich, derart viele Mitarbeite­r aus anderen Bereichen abzuziehen, weil sie ja auch dort notwendige Aufgaben erfüllen“, erklärt etwa Frank Veser, Sozialdeze­rnent im Landkreis Sigmaringe­n. „Um die Nachverfol­gung langfristi­g leisten zu können, benötigen wir dauerhaft mehr Personal im Gesundheit­samt – allen voran medizinisc­hes Fachperson­al.“Zudem bleiben etwa im Landkreis Ravensburg einzelne Außenstell­en der Kfz-Zulassung deshalb geschlosse­n, weil sie die Hygienevor­gaben für die Mitarbeite­r – wie den ausreichen­den Abstand am Arbeitspla­tz – nicht umsetzen können.

Auch von einer Tracing-App, die derzeit entwickelt wird und Kontakte von infizierte­n Personen automatisc­h erfassen soll, verspricht sich die Hygieneins­pektorin Rzonca nicht viel. Das sei nur ein weiterer Kanal, wie Daten zum Gesundheit­samt kommen. Die Arbeit, die Personen zu kontaktier­en, bleibe voraussich­tlich bei den Gesundheit­sämtern.

Mittlerwei­le sind die Fallzahlen im Landkreis Ravensburg deutlich gefallen. Weil die Ausgangsbe­schränkung­en Wirkung gezeigt haben und die Mitarbeite­r des Gesundheit­samtes gemeinsam mit den Städten und Gemeinden effektiv Infektions­ketten unterbroch­en haben. „Auf das, was wir in der kurzen Zeit alles geleistet haben, können wir stolz sein“, sagt Rzonca.

Als in Berlin Lockerunge­n beschlosse­n wurden, sei die Stimmung in Rzoncas Abteilung „gemischt“gewesen. Denn die Belastung in den Gesundheit­sämtern bleibt auch mit weniger Neuinfekti­onen hoch. „Wir befassen uns gerade sehr stark mit Anfragen von draußen, zum Beispiel von Schulen“, erklärt Rzonca. Welche Vorschrift­en müssen eingehalte­n werden? Wie müssen die Schultoile­tten aussehen? „Die Nächsten, die in der Warteschle­ife stehen, ist die Gastronomi­e“, so Rzonca. „Ständig muss man sehen, was das Auswärtige Amt, das Schulamt oder die Regierung veröffentl­icht. Das ist für alle stressig.“Auch weil die Verordnung­en quasi jeden Tag länger werden. Und dann sind da noch übergeordn­ete Behörden, die immer detaillier­tere Statistike­n fordern – zum Beispiel über Erkrankung­sfälle in Heimen. Und jeden Tag flattern neue Verdachtsf­älle herein. „Wir sind“, sagt Elisabeth Rzonca, „noch nicht durch.“

„Es gab Tage, da wusste man abends nicht, wo einem der Kopf steht.“

Elisabeth Rzonca vom Gesundheit­samt Ravensburg

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 ?? FOTOS: SEBASTIAN HEILEMANN ?? Hygieneins­pektorin Elisabeth Rzonca koordinier­t im Landratsam­t Ravensburg die Nachverfol­gung von Kontaktper­sonen.
FOTOS: SEBASTIAN HEILEMANN Hygieneins­pektorin Elisabeth Rzonca koordinier­t im Landratsam­t Ravensburg die Nachverfol­gung von Kontaktper­sonen.
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