Die Zahl der Toten gibt wenig Aufschluss
Virologe Mertens hält es für einen Fehler, das Coronavirus mit der Grippe zu vergleichen
- Es ist eines der Hauptargumente von Corona-Skeptikern und Lockdown-Gegnern: Covid-19 sei nicht schlimmer als eine normale Grippe. Daher fordern sie die Abschaffung von Kontaktverboten und Ausgehbeschränkungen. Virologen warnen vor einem Vergleich von Corona- und Influenzavirus.
Die Gegner der Maßnahmen untermalen ihre These mit verschiedenen Fakten und Zahlen. Häufig führen sie die Grippewelle 2017/18 ins Feld. In dieser sind vergleichsweise viele Menschen an einer InfluenzaErkrankung gestorben. Die vom Robert-Koch-Institut geschätzte Zahl der Grippetoten beträgt für den Zeitraum zwischen Oktober 2017 und Mai 2018 rund 25 100. Das war laut RKI eine „ungewöhnlich starke“Grippewelle mit der höchsten Zahl an Influenza-Todesfällen der vergangenen 30 Jahre.
Das RKI schätzt die Zahl der Grippetoten deshalb, weil die Folgen der Influenza häufig nicht als Todesursache eingetragen werden. Die Wissenschaftler vergleichen dafür die Gesamtzahl der Toten einer Grippesaison mit den durchschnittlichen Todesraten der Vorjahre. Aus der Differenz ergibt sich die sogenannte Übersterblichkeit. Die Zahl der laborbestätigten Influenza-Todesfälle lag für diese Grippesaison bei 1674.
Zahlen des Statistischen Bundesamts sollen angeblich ebenfalls belegen, dass die Grippe grundsätzlich gefährlicher ist als das Coronavirus. In den ersten vier Monaten des Jahres 2018 stieg die Sterberate bei allen Altersgruppen ab 60. 2020 geht vor allem die Sterberate der über 80-Jährigen nach oben – bei den Altersgruppen darunter bleibt sie relativ konstant. Die Schlussfolgerung der Corona-Skeptiker lautet: Das Coronavirus tötet größtenteils Hochbetagte, während eine Grippe auch für einen 60-Jährigen lebensgefährlich sein kann. Daher solle die Politik die Kontaktbeschränkungen beenden und den Bürgern wieder mehr persönliche Freiheit zugestehen.
Der Virologe Professor Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission am Robert-KochInstitut (Stiko), warnt vor solchen Vergleichen. Diese Zahlen ließen keine Schlussfolgerungen über die Gefährlichkeit von Influenza- und Coronavirus zu. Denn es gehe nicht um Risikogruppen „für Tod, sondern um Risikogruppen für schwere Erkrankung“, sagt Mertens. Die Gefahr bei einer Pandemie mit einem völlig neuen Erreger, „gegen den es in der Population keine Immunität gibt“, liege in der Überlastung des Gesundheitssystems. Das gefährde auch die NichtCorona-Patienten, die deswegen nicht mehr hinreichend behandelt werden könnten. Das Gesundheitssystem könnte „theoretisch auch bei 30 Toten überlastet sein, wenn ausreichend viele lange stationär behandelt werden müssen“, erklärt der Experte.
Das Durchschnittsalter der Covid-19-Patienten liege irgendwo bei 50 Jahren, sagt Mertens. Und die Risikogruppe für schwere Covid-19Krankheitsverläufe
sei groß. Das RKI zählt Menschen mit Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes und Lungenleiden, Raucher und Übergewichtige dazu. Auch steigt ab 50 Jahren die Gefahr schwerer Verläufe kontinuierlich.
Dennoch zeigt sich in Deutschland bislang eine relativ geringe Übersterblichkeit. Mertens geht davon aus, dass die Übersterblichkeit durch Covid-19, über die man jedoch „noch nichts Abschließendes“wisse, auch eine Folge der Maßnahmen ist. „Denn die Übersterblichkeit muss von der Infektionsrate abhängen“, sagt Mertens. Er weist zudem auf die Staaten hin, deren Regierungen gegen die Coronavirus-Verbreitung zunächst keine oder nur sehr moderate Maßnahmen ergriffen haben – wie Großbritannien und die USA.
Die Vereinigten Staaten sind von der Coronavirus-Pandemie schwer getroffen. Die Zahl der Infizierten hat die Eine-Million-Marke bereits überschritten. Die „Washington Post“berichtet gemeinsam mit der Universität Yale, von Anfang März bis einschließlich 4. April habe es etwa 15 400 Todesfälle mehr als im
Vergleichszeitraum der Vorjahre gegeben. In diesem Zeitraum wurden jedoch lediglich 8128 Menschen gezählt, die offiziell am Coronavirus gestorben sind. Wie viele der rund 7000 zusätzlichen Todesfälle mit einer Infektion zusammenhängen, ist noch nicht geklärt.
Andere Länder wie Italien und Spanien berichten von dramatisch hohen Totenzahlen. Belgien verzeichnete im April die höchste Sterberate seit dem Zweiten Weltkrieg. In stark von der Pandemie betroffenen Gebieten ist laut belgischen Forschern auch die Übersterblichkeit in der Altersgruppe von 45 bis 64 Jahren merklich erhöht. Von den rund 56 000 Infizierten starben rund 9080 Menschen. Belgien verzeichnet damit eine der höchsten Pro-Kopf-Todesraten weltweit. Dabei hatte Belgien schon früh weitaus strengere Maßnahmen als Deutschland verhängt.
Und auch die Spätfolgen einer überstandenen Covid-19-Erkrankung sind noch nicht abzusehen – klar ist jedoch laut Professor Mertens, „es wird sie geben“. Covid-19 scheine mehr ein Multiorgan-Problem zu sein als Influenza.