Mit Münchner Grundwasser auf die Wiesn
Seit 130 Jahren bestimmen sechs Brauereien den Biermarkt in der bayerischen Landeshauptstadt – Nun kommt das kleine Giesinger Bräu dazu und strebt zu den Platzhirschen auf das Oktoberfest
MÜNCHEN Der Weg zum Oktoberfest führt Steffen Marx hinaus auf den Parkplatz seines Werksgeländes und zu einem unscheinbaren Betonhäuschen – kaum zwei Meter breit und nur wenig länger. Durch eine silberne Metalltür geht‘s in einen schmucklosen Raum, in dessen Mitte sich ein autoreifengroßes Loch im Boden befindet, bedeckt von einer Metallplatte, aus der mehrere Rohre ragen. Und drum herum hängen allerlei Kabel, Schläuche und Apparaturen.
Und das soll der Schlüssel zur Wiesn sein? „Das hatte ich mir spektakulärer vorgestellt“, schießt es dem Betrachter durch den Kopf. Und kaum ist dieser Gedanke ausgesprochen, macht sich ein Grinsen im Gesicht von Steffen Marx breit. „Genau das“, erklärt er dann, „hat bislang noch jeder gesagt, dem ich das hier gezeigt habe.“Denn das Besondere dieses betongrauen Kämmerchens würde sich erst beim Blick unter die fest verschraubte Metallplatte offenbaren. Da geht es 150 Meter in die Tiefe, hinab bis zum Münchner Grundwasser, das hier nach oben gepumpt wird – 1,9 Liter pro Sekunde.
Mit diesem begehrten Gut wird Giesinger Bräu, das ist die Brauerei von Steffen Marx, schon in wenigen Tagen ihr Bier brauen. Am bisherigen Standort verwendet sie dafür noch Münchner Leitungswasser, das aus dem Mangfall- und Loisachtal im Voralpenland stammt. Doch sobald die neue Produktionsstätte hier im Norden der Stadt in Betrieb geht und dort Bier aus Münchner Grundwasser gebraut wird, darf sich Giesinger Bräu offiziell „Münchner Brauerei“nennen – eine geschützte Marke, die bislang bloß die großen Sechs tragen, also Augustiner, Hacker-Pschorr, Hofbräu, Löwenbräu, Paulaner und Spaten.
Seit 1889 ist dieser elitäre Zirkel unter sich geblieben, doch das könnte sich nun ändern – was weitreichende Folgen hätte. Denn nur Münchner Brauereien erhalten von der Stadt die Genehmigung, ihr Gebräu im Biergarten auf dem Viktualienmarkt sowie beim jährlichen Stadtgründungsfest auszuschenken. Und vor allem: auf dem Oktoberfest. Für Giesinger
Bräu würde das also bedeuten: Der 2006 in einem Hinterhof gegründete Betrieb könnte plötzlich Ansprüche auf ein eigenes Wiesn-Zelt anmelden.
„Das ist natürlich unser Ziel, da wollen wir hin“, sagt Steffen Marx beim Rundgang durch das neue Werk. Die Füße des Brauerei-Chefs stecken in bunten Ringelsocken und Turnschuhen; zur kurzen Hose trägt der 41-Jährige ein T-Shirt, Steppweste und zumeist ein Lächeln im Gesicht. Marx ist einer, der an jedem Biertresen sofort mit seinem Nachbarn ins Gespräch kommt. Ein Kumpeltyp, der alle vom Start weg duzt – und dennoch ein feines Näschen fürs Geschäft hat. Allein für das Image seiner Brauerei wäre ein Zelt auf dem Oktoberfest unbezahlbar, ist Marx überzeugt. „Unser Bekanntheitsgrad würde explodieren.“
Wobei der Brauerei-Chef sogleich anmerkt, dass all das noch Zukunftsmusik sei. Nun gehe es erst mal darum, das neue Werk zum Laufen zu bringen – erschwert durch die aktuellen Corona-Einschränkungen. Ende April haben sie den ersten Probesud aufgesetzt. Seit Anfang Mai öffnet die neue Brauerei immer samstags ihre Tore für einen Drive-in-Verkauf – die Schlange der Autos reichte dabei bis vors Werksgelände und noch zwei Straßen weiter.
Richtig losgehen mit der Produktion soll‘s dann im Juni. Prinzipiell könne man hier 40 000 Hektoliter Bier im Jahr brauen – mehr als dreimal so viel wie im jetzigen Brauhaus im Stadtteil Giesing, sagt Marx. Er ist bei seinem Rundgang inzwischen vor den meterhohen Tanks angekommen, von denen ein jeder 30 000 Liter fasst. „Wir sind der Größte von den Kleinen und der Kleinste von den Großen“: So beschreibt Marx die Rolle von Giesinger Bräu in der Münchner Brauerei-Landschaft. Diese ist freilich weit weniger münchnerisch als die meisten meinen: Spaten und Löwenbräu sind seit 2003 im Besitz von Anheuser-Busch InBev, dem größten Brauereikonzern der Welt. Hacker-Pschorr und Paulaner gehören – nebst einem knappen Dutzend weiterer Brauereien – zur Paulaner Brauerei Gruppe. Sie ist zu 70 Prozent im Besitz der Schörghuber Unternehmensgruppe, die auch in Immobilien, Hotels und Lachszucht macht. Die restlichen 30 Prozent gehören Heineken, der weltweiten Nummer 2 der BierRiesen.
Bleiben das Hofbräu München, das dem Land Bayern gehört und jährlich gut 360 000 Liter Bier produziert, sowie die Augustiner Brauerei. Sie wurde 1328 gegründet, ist die älteste noch bestehende Brauerei in München und zu knapp über 50 Prozent im Besitz einer
Stiftung, die mit ihrem Gewinn vor allem soziales und kulturelles Engagement fördert. Augustiner kommt auf einen geschätzten Jahresausstoß von circa 1,6 Millionen Hektoliter – wogegen Giesinger Bräu auch nach Eröffnung des neuen Werks wie ein Winzling wirkt. Und doch werden die Münchner Brauereien den Emporkömmling nicht länger ignorieren können – allein schon des Oktoberfests wegen.
Dass dort lediglich Münchner Brauereien ihr Bier ausschenken dürfen, führt schon seit Jahrzehnten zu Streitigkeiten – und hat auch die Justiz beschäftigt. Als prominentester Kritiker der Stadt tritt dabei Luitpold Prinz von Bayern auf, der Chef der König Ludwig Brauerei und Urenkel von Bayerns letztem König, Ludwig III. Mithin waren es also seine Vorfahren aus dem Hause Wittelsbach, die dereinst den Startschuss fürs Oktoberfest gaben, das auf die Hochzeit von Ludwig von Bayern und Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen 1810 zurückgeht. Doch weil die Brauerei des Prinzen ihren Sitz nicht in München, sondern im nahen Fürstenfeldbruck hat, blieb ihr der Zugang zum Oktoberfest verweigert – aller Klagen und öffentlichen Protestaktionen zum Trotz.
Dass nun ausgerechnet ein gebürtiger Mecklenburger zum Kreis der WiesnWirte stoßen könnte, der obendrein auch noch Marx mit Nachnamen heißt – das wäre eine besonders schöne Pointe in der reichen Historie des Oktoberfests. Und in der Geschichte von Giesinger Bräu sowieso. Um sie zu erzählen, muss man zurückgehen ins Jahr 1999, in dem Steffen Marx nach München zieht, um dort ein Studium an der Bundeswehr-Universität zu beginnen. Kurz vor dem Hauptdiplom bricht er seine Offizierslaufbahn ab, erhält aber noch drei weitere Jahre einen Teil seines Gehalts. Zunächst sei er „nur rumgesandelt“, so formuliert es Steffen Marx. Danach studiert er Brauwesen, bricht aber nach zwei Semestern erneut ab. Im Jahr 2006 gründet er schließlich Giesinger Bräu – in einer Garage, zusammen mit einem Kumpel. Es ist dies der Startschuss zu einer Erfolgsstory.
„Unser größtes Glück war, dass wir den richtigen Zeitpunkt erwischt haben“, sagt Steffen Marx rückblickend. „Wir haben mit Giesinger Bräu begonnen, als viele Leute wieder Wert auf die Herkunft von Lebensmitteln und das Thema Regionalität gelegt haben.“Immer mehr Menschen seien damals bereit gewesen, ein paar Euro mehr für die Kiste Bier hinzulegen – wenn das Gebräu aus ihrer Nachbarschaft stammt und die Qualität stimmt. Und genau diese Menschen unterstützen die Brauerei auch auf ihrem Weg vom Hinterhof-Start-up zum Mittelständler mit inzwischen circa 80 Mitarbeitern. So sammelt Giesinger Bräu, als die Garage irgendwann zu klein ist, per Crowdfunding fast 800 000 Euro für den Bau einer Brauerei samt Bräustüberl. Sie wird 2014 unweit des Grünwalder Stadions eröffnet, doch auch hier stößt Giesinger Bräu schon bald an die Kapazitätsgrenze.
„Aktuell ist es so, dass wir die Nachfrage nicht bedienen können“, sagt Steffen Marx. Daher hat er sich auf die Suche nach einem Standort für eine neue Brauerei gemacht – und ist im Stadtteil Milbertshofen im Norden von München fündig geworden. Dort ist auf 4700 Quadratmetern eine Abfüllanlage samt Sudhaus, Lager und Büros entstanden – unterstützt durch zwei weitere Crowdfunding-Kampagnen, bei denen insgesamt mehr als 4,5 Millionen Euro zusammenkamen.
Allein zwei Jahre habe es gedauert, bis man die Genehmigung für den Tiefbrunnen erhalten habe, erzählt Steffen Marx. „Von den großen Brauereien ist keiner davon ausgegangen, dass wir diese Genehmigung bekommen.“Inzwischen aber steht das neue Werk kurz vor der Inbetriebnahme, was wegen der Corona-Auflagen bloß im kleinen Kreis gefeiert wird. Immerhin etwas Gutes habe die aktuelle Situation aber, sagt der Brauerei-Chef. „Ich war die ganze Zeit unter Feuer und wie im Hamsterrad. Erst durch Corona ist mein Kopf freier geworden.“Und so falle ihm jetzt auch auf, wenn er durch die neue Brauerei laufe, „dass das schon ziemlich cool geworden ist“, sagt Steffen Marx und blickt hinüber zu den glänzenden Tanks. „Vor allem, wenn man bedenkt, dass wir unser Bier noch vor fünf Jahren in der Garage gebraut haben.“
„Wir sind der Größte von den Kleinen und der Kleinste von den Großen.“
Steffen Marx über das Giesinger Bräu