Sittenwidrig und besonders verwerflich
BGH gibt Kläger recht und geht mit dem Volkswagen-Konzern hart ins Gericht
- An der juristischen Einstufung der Abgasmanipulationen beim VW-Motor des Typs EA 189 ließ der Vorsitzende Richter beim Bundesgerichtshof (BGH), Stephan Seiters, beim ersten höchstrichterlichen Spruch im Dieselskandal keinen Zweifel. „Das Verhalten der Beklagten ist objektiv als sittenwidrig zu qualifizieren“, stellte er klar. Weiter sprach Seiters von einer arglistigen Täuschung der Kunden, die ein Fahrzeug mit diesem Motor in Unkenntnis einer illegalen Abschalteinrichtung bei der Abgasreinigung erworben hatten. Dies sei „besonders verwerflich und mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren“.
Damit bestätigte der BGH das Urteil der unteren Instanz und stellte erstmals ein grundsätzliches Entschädigungsrecht fest. Geklagt hatte Herbert Gilbert, der 2014 einen VWSharan zum Preis von 31 490 Euro kaufte. Von der Nachricht, dass VW in diesem Modell eine illegale Abschalteinrichtung eingebaut hat, war er schockiert. „Ich war wirklich wütend“, sagt Gilbert, „ich will das Auto zurückgeben“. Darauf klagte er. Das
Oberlandesgericht gab ihm Recht, zog aber vom Kaufpreis eine Nutzungsentschädigung ab. VW sollte am Ende 25 616,10 Euro an Gilbert überweisen und das Fahrzeug zurücknehmen. Dabei bleibt es nun.
Volkswagen hat einen Schaden für seine Kunden bisher bestritten, weil die Autos ja ohne Einschränkung genutzt werden können. Doch die Argumente des Konzerns konnten den BGH nicht überzeugen. Das wurde schon im Verlauf der Verhandlung vor drei Wochen deutlich. Im Urteil kritisieren die Richter VW scharf. Das Unternehmen habe im eigenen Kosten- und Gewinninteresse eine grundlegende strategische Entscheidung bei der Motorenentwicklung getroffen und durch „bewusste und gewollte Täuschung des Kraftfahrtbundesamts systematisch, langjährig und in Bezug auf den Dieselmotor der Baureihe EA 189 in siebenstelligen Stückzahlen Fahrzeuge auf den Markt gebracht“.
Für VW kann die Entscheidung sehr teuer werden. Insgesamt sind noch rund 60 000 Klagen gegen den Konzern anhängig. Die Gerichte in Deutschland werden sich nun auf das BGH-Urteil beziehen. Ob sie in allen Fällen zu gleichen Ergebnissen kommen werden, ist keineswegs sicher, da die Lage in den Einzelfällen unterschiedlich sein kann. So hat der BGH noch drei weitere Fälle im gleichen Zusammenhang zu entscheiden.
Keine Folgen hat das Urteil für jene VW-Kunden, die den Vergleich zwischen dem Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) und Volkswagen im Verlauf der ersten Musterfeststellungsklage angenommen haben. Für sie ist der Fall mit der einmalige Zahlung des Konzerns mit Beträgen zwischen gut 1300 Euro und mehr als 6000 Euro beendet. Von den 260 000 Klägern haben den Vergleich 230 000 angenommen. Der große Unterschied zum BGHKläger zeigt sich einerseits darin, dass die Autobesitzer der Sammelklage ihr Fahrzeug behalten und weiter fahren, also nicht zurückgeben. Zudem handelt es sich häufig um viel gefahrene Autos. „Je mehr Kilometer gefahren wurden, desto geringer ist der Schadenersatz“, sagt der Referent für Musterfeststellungsklagen beim vzbv, Sebastian Reiling.
Die Mitstreiter, die den Vergleich nicht angenommen haben, profitieren jetzt nachträglich von der neuen Sammelklage, weil die Teilnahme daran die Verjährung ihres Falls ausgesetzt hat. In den nächsten sechs Monaten können sie eine Individualklage gegen VW anstrengen. Mit dem BGH-Urteil im Rücken haben sie gute Chancen, mehr herauszuholen als das Vergleichsangebot vorsah.
Erledigt ist der Dieselskandal noch lange nicht. Eine nächste wegweisende Entscheidung wird der Europäische Gerichtshof (EuGH) in den kommenden Monaten fällen. In Luxemburg wird die Frage geklärt, ob Abschalteinrichtungen generell illegal sind, wenn dadurch Schadstoffemissionen auf dem Prüfstand geringer sind als im realen Verkehr. Der Generalanwalt des EuGH sieht es so. Meist folgt das Gericht dessen Gutachten. Die sogenannten Thermofenster haben auch andere Hersteller in Dieselmodellen eingerichtet. Rechtsanwalt Claus Goldenstein, Vertreter des VW-Klägers, erwartet bei einem entsprechenden Urteil des EuGH Millionen Fahrzeug-Rückrufe in Deutschland und eine Klagewelle. „Die Halter sämtlicher Dieselfahrzeuge könnten sich dann auf unser BGH-Urteil beziehen und Entschädigungen in Milliardenhöhe durchsetzen“, glaubt Goldenstein.