Wenn das Virus die Würde nimmt
Durch die Corona-Krise sind sehr viele Menschen in Deutschland in finanzielle Not geraten – Bei Beratungsstellen der Caritas zeigt sich das Ausmaß
- Michael Rust fühlt sich „zerstört“. Zerstört habe das Coronavirus jedoch nicht seine Gesundheit, sondern seine Selbstachtung. Er arbeitete als Küchenhelfer in einem Ulmer Lokal. Sein Lohn reichte gerade so für ein auskömmliches Leben. Jetzt ist er arbeitslos und weiß nicht, wie er sich und seine kranke Frau durchbringen soll.
Rust gehört zu den vielen Verlierern der Corona-Krise, die die deutsche Wirtschaft vor die schwerste Prüfung nach dem Krieg stellt: Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB) erwartet im Jahresschnitt 2,5 Millionen Kurzarbeiter, einen Einbruch der deutschen Wirtschaftsleistung im Jahr 2020 um 8,4 Prozent, dazu in der Spitze drei Millionen Arbeitslose. Nach dem Corona-Schock im April sehen die Arbeitsmarktforscher nur wenig Entlastung.
Ein Indikator dafür ist das Arbeitsmarktbarometer des IAB. Dieses stieg im Mai gerade einmal um 0,4 Punkte auf 93,8 Punkte. Das Barometer gilt als Frühwarnsystem. Ein Wert unter 100 weist auf eine sich verschlechternde Entwicklung hin. Keine guten Vorzeichen. Schon jetzt ist für mehr als zehn Millionen Beschäftigte in Deutschland Kurzarbeit angemeldet worden.
Eine Entwicklung, die auch die Wohlfahrtsverbände vor ganz neue Herausforderungen stellt. Die Anzahl der Ratsuchenden etwa bei der Onlineberatung der Caritas erhöhte sich im März um über 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, heißt es beim Deutschen Caritasverband in Freiburg. Beim Diözesancaritasverband Rottenburg-Stuttgart beobachtet Heiner Heizmann, Leitung Kompetenzzentrum Sozialpolitik: „Zu uns kommen jetzt auch Menschen, die es sich nie hätten träumen lassen, dass sie eine Beratung in Anspruch nehmen müssen.“
Beispiele dafür gibt es viele: Da ist eine Frau, die im Servicebereich eines Freizeitparks beschäftigt und seit 1. März in Kurzarbeit ist. Sie bekommt Kurzarbeitergeld in Höhe von 918 Euro. Wenn man Miete, Strom, Telefon und Abzahlungsraten für offene Rechnungen abzieht, hat sie noch 54 Euro für den Lebensunterhalt. Sie kam zur Allgemeinen Sozialberatung, wurde beraten, es wurde Arbeitslosengeld II zur Aufstockung beantragt.
Doch nicht nur Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, sind betroffen. Auch Rentner spüren die Auswirkungen. Da wäre der Fall eines Mannes, dessen Rente nach einer Scheidung durch den Versorgungsausgleich nur rund 860 Euro beträgt. Dazu erhält er 48 Euro Wohngeld. Durch die Corona-Krise hat er seinen Minijob verloren, der existenziell für ihn war. Seine laufenden Kosten kann er nicht mehr decken.
Ein dritter Fall ist eine Frau, alleinerziehende Mutter, die mit ihren zwei Töchtern und der pflegebedürftigen Mutter in einer Wohnung lebt. Sie haben in diesem Haushalt ein Gesamteinkommen
von 2107 Euro. Das setzt sich zusammen aus Arbeitslosengeld II, aus Pflegegeld, Kindergeld und Unterhaltsbeiträgen. Vor einigen Wochen ging die Waschmaschine kaputt. Und wegen der Corona-Krise kann sie nicht mehr bei ihrer Schwester die Wäsche waschen, was sie seither gemacht hatte. Alle drei Fälle erhielten eine Beihilfe aus der Stiftung Franziskusfonds.
Auch der arbeitslose Küchenhelfer Michael Rust suchte Hilfe bei der Caritas. Seinen echten Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Er will nicht, dass sein Umfeld erfährt, dass er seit zwei Monaten keine Miete mehr bezahlen konnte. Und dass er auf Zuwendungen seines Sohnes angewiesen ist. Seit er seinen Job verloren hat, stecke ihm dieser immer mal wieder einen 50-Euro-Schein zu. Das sei für ihn das Schlimmste, sagt Rust der „Schwäbischen Zeitung“. Eigentlich sollten es doch die Eltern sein, die für ihre Kinder sorgen und nicht umgekehrt.
„Kein Arbeitsplatz muss wegen Corona verloren gehen“– dies sagte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier zu Beginn der Pandemie im März, schränkte jedoch gleichzeitig ein: Zumindest sollten keine Jobs abgebaut werden müssen in profitablen Betrieben. Rust arbeitete in einem solchen Betrieb, in der Regel von 10 bis 14 Uhr und dann wieder von 17.30 Uhr bis sich abends, oder auch erst nachts, die Pforten des Lokals schlossen, die letzten Gäste gegangen waren.
Sein ganzes Leben lang hat Rust in der Gastronomie seine Brötchen verdient. Es sei seine Leidenschaft, sagt er, in der Küche zu arbeiten. Über Jahrzehnte habe er sich Kenntnisse und Fähigkeiten erworben, auf die die Köche nicht verzichten wollten. Im März teilte ihm sein Chef dann aber mit: dass er von nun an auf ihn werde verzichten müssen. Keine Gäste, keine Arbeit mehr.
Monika Betz-Albegiani gehört zum Team der Sozial- und Arbeitslosen-Beratung der Caritas in Ulm. Sie und ihre Kollegen haben es seit Kurzem vor allem und vermehrt mit Menschen wie Michael Rust zu tun. Menschen, die eher im Niedriglohnsektor
beschäftigt sind, in der Gastronomie, der Hotellerie, dem Einzelhandel. Und die wegen der Auswirkungen der Krise plötzlich keine Jobs mehr haben oder in Kurzarbeit weiterbeschäftigt sind. Betz-Albegiani sagt aber auch: „Es trifft genauso Menschen aus dem Mittelstand.“
Die Aufgabe der Sozialberatung ist es nicht, ihren Klienten so schnell wie möglich wieder neue Arbeitsplätze zu verschaffen. Dafür ist sie auch gar nicht zuständig, das ist Aufgabe der Agentur für Arbeit. Stattdessen will die Sozialberatung dafür sorgen, dass die Betroffenen die Krisenzeit wirtschaftlich gut überstehen. Sie werden beraten, welche Sozialleistungen
ihnen zustehen, und bei der Antragstellung unterstützt.
Ohne die Hilfe der Caritas wären viele damit schlicht überfordert. Auch Menschen, die der deutschen Sprache mächtig sind. Die Bescheide der Ämter, die im Fall von Michael Rust mittlerweile eine ganze Mappe füllen, seien gelinde gesagt, so formuliert es Monika Betz-Albegiani, „erklärungsbedürftig“. Sie könne es gut verstehen, wenn Betroffene da nicht mehr „durchblicken“.
Monika Betz-Albegiani hat Michael Rust in einen Besprechungsraum im Erdgeschoss des Ulmer BischofSproll-Hauses gebeten, die Zentrale der Caritas für Ulm und den Alb-Donau-Kreis. Sie haben Platz genommen an einem großen Tisch, wobei es genau genommen mehrere Tische sind, die zu einer großen grauen Fläche zusammengeschoben wurden. Das schafft Abstand zwischen den Gesprächspartnern. Draußen donnert der Verkehr der Olgastraße vorbei, deshalb sind die Fenster geschlossen. Es ist warm und der Mundschutz, den beide tragen, macht es nicht besser. Dazu trägt Michael Rust eine Wollweste. Immer wieder muss er schlucken, sein Mund ist trocken. Er will nicht weniger zurück als seine Würde.
Monika Betz-Albegiani betreut knapp 200 Menschen pro Jahr, ausgestattet ist sie mit einer 65-ProzentStelle. Was sie für Michael Rust erreichen möchte: dass sein Antrag auf Arbeitslosengeld I und „ergänzende
Leistungen zum Lebensunterhalt“genehmigt werden. Es ist vertrackt. Da einer seiner beiden Söhne mit ihm und seiner kranken Ehefrau im Haushalt lebt, zählt auch die Ausbildungsvergütung des Sohnes zum Einkommen. Nach Abzug der Freibeträge muss zunächst ermittelt werden, wie viel Geld der „Bedarfsgemeinschaft“überhaupt zusteht. Viel blieb auch bisher nicht übrig, nachdem Miete, Telefon und Strom bezahlt waren. Bis zu seiner Kündigung konnte Rust seinen und den Lebensunterhalt für seine Frau aber ohne staatliche Unterstützung bestreiten. Zwar bekam er zeitweilig auch Kurzarbeitergeld, doch nach dem Verlust des Arbeitsplatzes fehlen ihm einige Hundert Euro, um seine – nicht gerade üppigen Ausgaben – bezahlen zu können.
Zuletzt wurde dem 56-Jährigen das Girokonto gesperrt. Auch darum will sich Monika Betz-Albegiani kümmern. Rust wirkt erschöpft. Ob er je wieder auf eigenen Beinen wird stehen können? Zweimal pro Woche putzt er noch immer zusätzlich in einem Geschäft. Viel kommt dabei aber nicht zusammen.
Auch schon vor Corona konnte sich Monika Betz-Albegiani nicht über zu wenig Arbeit beklagen. Zu ihr kamen und kommen noch immer Menschen, die es aus der Bahn geworfen hat; sei es durch Krankheit, einen Unfall oder eine Trennung. Die kostenlose Beratung soll ihnen helfen, wenigstens wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen.
Monika Betz-Albegiani zeigt auf, an wen sich die Ratsuchenden wenden müssen, um Unterstützung zu bekommen. Und wenn es sein muss, begleitet sie sie auch zu Terminen. Viele wüssten einfach nicht, dass ihnen in schlechten Zeiten Kinderzuschlag und Wohngeld oder ergänzende Sozialleistungen zustehen. Doch wer befasst sich mit solchen Fragen schon in guten Zeiten? Wohl die wenigsten. Hilfe von außen sei nötig. Angst und Sorgen machten das Denken eng, hat Betz-Albegiani festgestellt.
Für Michael Rust schätzt sie die Chancen trotz allem als „sehr gut“ein, nach der Krise wieder in einer Küche arbeiten zu können. Wenn nicht an seinem bisherigen Arbeitsplatz, dann in einem anderen Lokal. .
Für Tausende weitere Ratsuchende wünscht sich Pfarrer Oliver Merkelbach, Direktor des Diözesancaritasverbandes, ebensolche Beratung. Und er bittet um Hilfe: „Um auf die erhöhte Nachfrage reagieren und diesen Menschen angemessen helfen zu können, braucht die Caritas dringend Unterstützung.“In den Beratungsstellen soll nach Merkelbachs Worten im Einzelfall und mit enger Begleitung Soforthilfe als Überbrückungsgeld gewährt werden können – zum Beispiel bis staatliche Hilfen greifen oder man sich mit dem Vermieter einigen konnte. Zum anderen will die Caritas das Beratungsangebot vorübergehend ausweiten. Sein Appell: „Lassen Sie uns miteinander füreinander sorgen, damit aus der Krise für niemanden eine bedrohliche Lebenskrise wird.“