Annäherung im Schneckentempo
EU-Kommission legt Fortschrittsbericht zur Türkei vor – Kritik an Rechtsstaatlichkeit
- Einmal pro Jahr wird Europa daran erinnert, dass die Türkei noch immer ein Aufnahmekandidat ist. Am Dienstag war es wieder soweit: Die EU-Kommission veröffentlichte den jährlichen Fortschrittsbericht. Er bescheinigt dem Land, dass es sich wirtschaftlich auf europäische Standards zubewegt – wenn auch im Schneckentempo. Andererseits sprachen erst vergangenen Donnerstag die EU-Regierungschefs wegen der Gas- und Ölbohrungen in griechischen und zypriotischen Hoheitsgewässern über mögliche Sanktionen gegen Ankara. Das sind für den Verlauf einer Woche recht widersprüchliche Nachrichten.
Unverändert kritisch sieht der Bericht den Bereich Bürgerrechte, Medien und Justiz. Zwar sei der auf den Putsch folgende Ausnahmezustand im Juli 2018 aufgehoben worden. Die Auswirkungen auf Demokratie und Grundrechte seien aber bis heute zu spüren. Viele Sonderverordnungen aus dieser Phase seien in ordentliche Gesetze überführt worden. Die durch eine Verfassungsreform gestärkte Rolle des Präsidenten habe andere Institutionen wie die Zentralbank geschwächt und die Gewaltenteilung untergraben. Die Administration sei unter stärkerem politischen Einfluss als zuvor, Reformansätze in der Justiz seien dadurch rückgängig gemacht worden. Der Kampf gegen Korruption sei im Beobachtungsjahr zum Stillstand gekommen, beim Kampf gegen organisierte Kriminalität gebe es sehr kleine Fortschritte.
Positiv wird vermerkt, dass die Bürgermeisterwahlen in Istanbul angefochten wurden und die Wiederholung dazu führte, dass der Oppositionskandidat gewann. Äußerst beunruhigend aber sei die Lage in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei. 47 demokratisch gewählte Bürgermeister der Kurdenpartei HDP seien durch von der Regierung eingesetzte Präfekten abgelöst worden. Damit sei die demokratische Legitimation der Kommunalwahlen im März 2019 verletzt worden. Der Bericht betont, dass es der türkischen Regierung selbstverständlich möglich sein müsse, gegen extremistische und terroristische Kräfte in der Guerillabewegung PKK vorzugehen. Einige ihrer Führer stünden sogar auf der EU-Terrorliste. Doch habe auch dieser Personenkreis ein Anrecht auf anwaltschaftliche Vertretung und einen transparenten und fairen Gerichtsprozess.
Sehr positiv wird die Flüchtlingspolitik bewertet. Mit 3,6 Millionen registrierten Zufluchtsuchenden aus Syrien und 370 000 aus anderen Herkunftsländern sei die Türkei das größte Aufnahmeland weltweit. Erwähnt wird auch, dass die Regierung im März Zehntausende Flüchtlinge an die türkisch-griechische Grenze verfrachtete, um Druck auf die EU auszuüben. Fast beschwörend wird festgestellt, der türkische Innenminister habe aber versichert, dass kein Abweichen vom EU-Türkei-Flüchtlingspakt geplant sei.
Während die EU-Regierungen und die Kommission im Verhältnis mit Ankara Samthandschuhe anziehen, kommen aus dem Europaparlament deutlich kritischere Töne. Der grüne Abgeordnete Sergey Lagodinski, der die Türkei-Delegation des Parlaments leitet, verlangt, dass wirtschaftlicher Druck kein Tabu sein darf, „um Präsident Erdogan und seine Regierung sowohl innen- als auch außenpolitisch von ihrem schädlichen Kurs abzubringen.“Mit sechs Milliarden Euro hat die EU die Unterbringung und Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Türkei bislang gefördert. Im Juli schoss sie weitere 485 Millionen Euro nach. Präsident Erdogan weiß genau, dass er damit ein starkes Druckmittel in der Hand hält. Solange es ihm opportun erscheint, wird er den Beitrittsprozess auf kleiner Flamme weiter köcheln lassen. Und der EU bleibt nichts übrig, als das Spiel mitzuspielen.