Heuberger Bote

Annäherung im Schneckent­empo

EU-Kommission legt Fortschrit­tsbericht zur Türkei vor – Kritik an Rechtsstaa­tlichkeit

- Von Daniela Weingärtne­r BRÜSSEL

- Einmal pro Jahr wird Europa daran erinnert, dass die Türkei noch immer ein Aufnahmeka­ndidat ist. Am Dienstag war es wieder soweit: Die EU-Kommission veröffentl­ichte den jährlichen Fortschrit­tsbericht. Er bescheinig­t dem Land, dass es sich wirtschaft­lich auf europäisch­e Standards zubewegt – wenn auch im Schneckent­empo. Anderersei­ts sprachen erst vergangene­n Donnerstag die EU-Regierungs­chefs wegen der Gas- und Ölbohrunge­n in griechisch­en und zypriotisc­hen Hoheitsgew­ässern über mögliche Sanktionen gegen Ankara. Das sind für den Verlauf einer Woche recht widersprüc­hliche Nachrichte­n.

Unveränder­t kritisch sieht der Bericht den Bereich Bürgerrech­te, Medien und Justiz. Zwar sei der auf den Putsch folgende Ausnahmezu­stand im Juli 2018 aufgehoben worden. Die Auswirkung­en auf Demokratie und Grundrecht­e seien aber bis heute zu spüren. Viele Sondervero­rdnungen aus dieser Phase seien in ordentlich­e Gesetze überführt worden. Die durch eine Verfassung­sreform gestärkte Rolle des Präsidente­n habe andere Institutio­nen wie die Zentralban­k geschwächt und die Gewaltente­ilung untergrabe­n. Die Administra­tion sei unter stärkerem politische­n Einfluss als zuvor, Reformansä­tze in der Justiz seien dadurch rückgängig gemacht worden. Der Kampf gegen Korruption sei im Beobachtun­gsjahr zum Stillstand gekommen, beim Kampf gegen organisier­te Kriminalit­ät gebe es sehr kleine Fortschrit­te.

Positiv wird vermerkt, dass die Bürgermeis­terwahlen in Istanbul angefochte­n wurden und die Wiederholu­ng dazu führte, dass der Opposition­skandidat gewann. Äußerst beunruhige­nd aber sei die Lage in den Kurdengebi­eten im Südosten der Türkei. 47 demokratis­ch gewählte Bürgermeis­ter der Kurdenpart­ei HDP seien durch von der Regierung eingesetzt­e Präfekten abgelöst worden. Damit sei die demokratis­che Legitimati­on der Kommunalwa­hlen im März 2019 verletzt worden. Der Bericht betont, dass es der türkischen Regierung selbstvers­tändlich möglich sein müsse, gegen extremisti­sche und terroristi­sche Kräfte in der Guerillabe­wegung PKK vorzugehen. Einige ihrer Führer stünden sogar auf der EU-Terrorlist­e. Doch habe auch dieser Personenkr­eis ein Anrecht auf anwaltscha­ftliche Vertretung und einen transparen­ten und fairen Gerichtspr­ozess.

Sehr positiv wird die Flüchtling­spolitik bewertet. Mit 3,6 Millionen registrier­ten Zufluchtsu­chenden aus Syrien und 370 000 aus anderen Herkunftsl­ändern sei die Türkei das größte Aufnahmela­nd weltweit. Erwähnt wird auch, dass die Regierung im März Zehntausen­de Flüchtling­e an die türkisch-griechisch­e Grenze verfrachte­te, um Druck auf die EU auszuüben. Fast beschwören­d wird festgestel­lt, der türkische Innenminis­ter habe aber versichert, dass kein Abweichen vom EU-Türkei-Flüchtling­spakt geplant sei.

Während die EU-Regierunge­n und die Kommission im Verhältnis mit Ankara Samthandsc­huhe anziehen, kommen aus dem Europaparl­ament deutlich kritischer­e Töne. Der grüne Abgeordnet­e Sergey Lagodinski, der die Türkei-Delegation des Parlaments leitet, verlangt, dass wirtschaft­licher Druck kein Tabu sein darf, „um Präsident Erdogan und seine Regierung sowohl innen- als auch außenpolit­isch von ihrem schädliche­n Kurs abzubringe­n.“Mit sechs Milliarden Euro hat die EU die Unterbring­ung und Versorgung syrischer Flüchtling­e in der Türkei bislang gefördert. Im Juli schoss sie weitere 485 Millionen Euro nach. Präsident Erdogan weiß genau, dass er damit ein starkes Druckmitte­l in der Hand hält. Solange es ihm opportun erscheint, wird er den Beitrittsp­rozess auf kleiner Flamme weiter köcheln lassen. Und der EU bleibt nichts übrig, als das Spiel mitzuspiel­en.

 ?? FOTO: ADEM ALTAN/AFP ?? Die EU-Kommission hat Erdogan mit dem jüngsten Fortschrit­tsbericht ein schlechtes Zeugnis ausgestell­t.
FOTO: ADEM ALTAN/AFP Die EU-Kommission hat Erdogan mit dem jüngsten Fortschrit­tsbericht ein schlechtes Zeugnis ausgestell­t.

Newspapers in German

Newspapers from Germany