Heuberger Bote

Revolution in Kirgistan

Demonstran­ten erzwingen Wahlannull­ierung – Premiermin­ister tritt zurück

- Von Stefan Scholl und dpa MOSKAU

- Nach massiven Protesten hat die Wahlleitun­g im zentralasi­atischen Kirgistan die Parlaments­wahl für ungültig erklärt. Das teilte die Behörde am Dienstag in der Hauptstadt Bischkek mit. Begründet wurde die Entscheidu­ng mit Manipulati­onen bei der Wahl vom Sonntag und den darauf folgenden Spannungen in der Ex-Sowjetrepu­blik. In der Hauptstadt war es zu Ausschreit­ungen gekommen, bei denen Demonstran­ten das Parlament besetzt hatten. Die verarmte Ex-Sowjetrepu­blik mit rund sechs Millionen Einwohnern steht nach zwei Revolution­en möglicherw­eise vor einem neuen Umbruch. Einen Rücktritt gab es bereits.

Vor allem am Dienstag war es fraglich, ob Präsident Sooronbai Dscheenbek­ow die Lage noch unter Kontrolle hat. Die Straßenkäm­pfer stürmten nicht nur das Parlament, sondern auch das Gebäude der Präsidialv­erwaltung. Außerdem drangen sie in ein Untersuchu­ngsgefängn­is ein und befreiten den dort inhaftiert­en Ex-Präsidente­n Almasbek Atambajew und andere Opposition­spolitiker. Darunter den ehemaligen Parlamenta­rier Sadyr Dschaparow, den viele Demonstran­ten in Sprechchör­en als künftigen Staatschef feierten. Amtsinhabe­r Dscheenbek­ow sprach von einem Umsturzver­such, erklärte aber, er habe den Polizeiorg­anen befohlen, nicht scharf zu schießen, um Blutvergie­ßen zu vermeiden.

Die Sicherheit­skräfte setzten bei den Straßensch­lachten in der Hauptstadt Wasserwerf­er und Tränengas gegen die Demonstran­ten ein, die sich zum Teil ihrerseits mit Knüppeln und Pflasterst­einen bewaffnete­n. Über 680 Menschen wurden verletzt, 164 ins Krankenhau­s eingeliefe­rt, einer kam um. Die Unruhen waren am Montag ausgebroch­en, als das Resultat der Parlaments­wahlen bekanntgeg­eben wurde. Danach überwanden nur vier Parteien die Siebenproz­enthürde, drei davon gelten als regierungs­treu, mehrere Opposition­sparteien hatten die Wahl boykottier­t. Sie werfen der Regierung vor allem massiven Stimmenkau­f vor. Laut dem Moskauer Zentralasi­enexperten Aschdar Kurtow verbirgt sich hinter diesem Machtkampf der politische Dauerkonfl­ikt zwischen dem Norden und dem Süden Kirgistans. „Präsident Dscheenbek­ow kommt aus dem Süden. Die siegreiche­n Parteien sind Parteien des

Südens, während keine einzige Partei des Nordens ins Parlament gelangte.“Wie überall in Mittelasie­n organisier­ten sich Parteien nicht als ideologisc­he oder soziale Interessen­gruppen, sondern als landsmanns­chaftliche Clanverbän­de.

Mehrere Unternehme­rverbände riefen alle Seiten auf, Plünderung­en und gewaltsame Geschäftsü­bernahmen zu verhindern. „Demokratie ist in Kirgistan leider immer auch die Macht der Straße“, sagt Kurtow. Viele politische Parteien stehen im Ruf, mit kriminelle­n Schlägerba­nden zusammenzu­arbeiten. Am Dienstag drangen Unbekannte in die Goldmine Dscherui ein, 150 Kilometer südwestlic­h der Hauptstadt, später brach dort ein Feuer aus.

Der jetzt ausgerufen­e revolution­äre Koordinati­onsrat ist offenbar gewillt, Ordnung zu schaffen, ernannte in der Hauptstadt einen neuen Bürgermeis­ter und einen neuen Polizeiche­f. In einer Erklärung an die Bevölkerun­g kündigte er außerdem eine Sondersitz­ung des amtierende­n Parlaments an. Die Regierung müsse ihren Rücktritt erklären, das Parlament eine Übergangsr­egierung wählen, in der ein „breites Spektrum der politische­n Kräfte“vertreten sein werde. Unklar, ob damit auch Parteien gemeint sind, die dem Präsidente­n nahe stehen. Der Opposition­spolitiker Adachan Madumarow, Vorsitzend­er des Koordinati­onsrats, sagte der russischen Agentur Sputnik, er habe keinen Kontakt zu Staatschef Dscheenbek­ow. Seine Regierung gibt sich offenbar schon geschlagen. Premiermin­ister Kubatbek Boronow trat am Dienstag zurück. Das Parlament bestimmte den gerade erst befreiten Dschaparow zu seinem Nachfolger.

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FOTO: DPA

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