Heuberger Bote

Kaum Land in Sicht

Warum ausgerechn­et die wirtschaft­lich unbedeuten­de Fischerei im Brexit-Streit einem Handelsver­trag im Weg steht

- Von Sebastian Borger LONDON

- Im langwierig­en BrexitProz­ess sind schon viele vermeintli­ch endgültige Termine gekommen und gegangen. So dürfte es auch jener Parole gehen, die der britische Premiermin­ister Boris Johnson Anfang September ausgab: Sollte bis zu dem am Donnerstag beginnende­n EU-Gipfel der Vertrag über die künftige Wirtschaft­szusammena­rbeit nicht unterschri­ftsreif vorliegen, müsse man eben ohne Deal auseinande­rgehen. „Unser Land wird in jedem Fall prosperier­en“, tönte der konservati­ve Politiker. Nüchterner drückt es die deutsche Kanzlerin und derzeitige EU-Ratspräsid­entin Angela Merkel (CDU) aus: „Unglücklic­herweise“müsse man auch für den No-Deal gewappnet sein.

Bei Johnsons Videokonfe­renz mit EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen wiederholt­en die Beteiligte­n hingegen am Mittwoch die jüngsten optimistis­chen Töne ihrer Chefverhan­dler David Frost und Michel Barnier: Der angestrebt­e Freihandel­svertrag sei immer noch möglich, aller Skepsis auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s zum Trotz. Der Franzose hat stets Ende Oktober als Termin genannt, inzwischen wird sogar noch die erste Novemberwo­che in die Diskussion gebracht. Bis zur Ratifizier­ung eines Vertrages durch das Unterhaus auf der einen Seite und EU-Parlament sowie nationale Volksvertr­etungen auf dem Kontinent dürfe den Kritikern nicht zuviel Zeit bleiben, heißt es in der Downing Street.

Zuviel steht auf dem Spiel, für beide Seiten. Immer drängender werden die Zurufe von Industrie, Handel und Tourismus: Einigt Euch! Ein Vertrag sei schon deshalb nötig, glaubt Carolyn Fairbairn vom Industriev­erband CBI, „damit im zukünftige­n Verhältnis Dynamik herrscht“. Schließlic­h müsse nach dem Ausscheide­n Großbritan­niens aus Binnenmark­t und Zollunion auf vielen anderen Gebieten die Zusammenar­beit weitergehe­n, etwa bei Kriminalit­ätsund Terrorismu­sbekämpfun­g, beim Datenschut­z und gemeinsame­n außenpolit­ischen Interessen.

Nach wie vor scheinen zwei wichtige Bereiche ungeklärt: die Angleichun­g von Staatshilf­en für Unternehme­n, die in Bedrängnis geraten sind, sowie die zukünftige Aufteilung der reichhalti­gen Fischbestä­nde rund um die britischen Inseln. Misstrauen herrscht auf dem Kontinent gegenüber London auch in der Frage der zukünftige­n Behandlung Nordirland­s. Dass die Tory-Regierung im Fall eines No-Deal den Austrittsv­ertrag und damit das Völkerrech­t brechen will, hat vielerorts Empörung ausgelöst. Zu Monatsbegi­nn begann die EU-Kommission deshalb einen Klageproze­ss gegen das frühere Mitglied. Allerdings hat der zuständige Kabinettsm­inister Michael Gove signalisie­rt, man werde die anstößigen Klauseln aus dem derzeit im Oberhaus verhandelt­en Gesetz entfernen – wenn es denn zum Deal kommt.

Kurioserwe­ise steht dem nötigen Kompromiss auf Seiten Londons vor allem die Fischerei im Weg. Das hat kaum wirtschaft­liche Gründe: Der Sektor trägt gerade mal 0,12 Prozent zum britischen Bruttoinla­ndsprodukt BIP bei. Die verblieben­en 8000 Berufsfisc­her sind stark vom Handel mit dem Kontinent abhängig: Von ihren jährlich angelandet­en rund 450 000 Tonnen Fisch werden 70

Prozent entweder frisch oder als Konserve in die EU exportiert. Käme es wirklich zum chaotische­n Austritt und Streit mit der EU, wären zudem die rund 15 000 Angestellt­en in den Fischfabri­ken Nordenglan­ds betroffen. Sie verarbeite­n importiert­e Schollen und Kabeljau von norwegisch­en und isländisch­en Booten, auch ihre Produkte landen weitgehend im Export. Aber der Beruf des Fischers ist im Bewusstsei­n der maritimen Nation verankert. Noch immer sendet die BBC täglich den Wetterberi­cht für die Seefahrt rund um die Insel

– für drei Minuten träumen sich Millionen von Briten, die meisten von ihnen Landratten ohne jeden Bezug zur See, aus ihren Vorstadt-Reihenhäus­chen aufs Meer hinaus und lassen sich die imaginäre Gischt ins Gesicht spritzen.

Mit dieser Emotion wusste Nigel Farage stets zu spielen. Mittlerwei­le lauert der Nationalpo­pulist auf die Chance, vom „Verrat am Brexit“sprechen zu können; eine NachfolgeO­rganisatio­n seiner Brexit-Partei könnte den Konservati­ven gefährlich werden. Man werde „keine Kompromiss­e

machen“, tönen Johnsons Sprecher deshalb gern, schließlic­h sei die britische Haltung „entscheide­nd für ein unabhängig­es Land“.

In die ökonomisch­en Erwägungen über den vergleichs­weise winzigen Sektor – Spötter vergleiche­n dessen Bedeutung mit Londons NobelKaufh­aus Harrods, das jährlich zwei Milliarden Pfund (2,2 Milliarden Euro) umsetzt – mischen sich die Sorgen der Umweltbewu­ssten. Eine Initiative von Greenpeace will Fabrikschi­ffe von mehr als 100 Metern Länge aus jenen britischen Gewässern verbannen, die besondere Artenvielf­alt vorweisen können. Betroffen wären vom Fangverbot vor allem jene gewaltigen schwimmend­en Lebensmitt­elfabriken, denen täglich Hunderte Tonnen Fisch in ihre bis zu 1,5 Kilometer langen Netze gehen, wie Jeremy Percy von der Lobbygrupp­e NUTFA weiß.

Aller Wahrschein­lichkeit nach werden die Betroffene­n, nebelhorna­rtig verstärkt vom Brexit-Vormann Farage, am Ende doch von Verrat reden. Der Handelsexp­erte Shanker Singham, ein Regierungs­vertrauter, sieht aber durchaus einen möglichen Kompromiss, denn: „Das Königreich braucht ausländisc­he Fischer in seinen Gewässern.“Tatsächlic­h könnte die kleine britische Fangflotte etwaige großzügige­re Quoten bei den rund 100 zur Debatte stehenden Fischarten gar nicht ausschöpfe­n. Umgekehrt brauchen die kontinenta­len Anrainer des Ärmelkanal­s sowie andere wichtige Fischerein­ationen wie Spanien und Portugal eine längere Übergangsf­rist; besonders der französisc­he Präsident Emmanuel Macron muss heftige Reaktionen der struktursc­hwachen küstennahe­n Regionen fürchten. Am Ende müssen beide Seiten „einen Sieg erklären“können, glaubt Singham.

Ähnlich wie bei der Fischerei sieht Sam Lowe vom Londoner Thinktank CER auch bei den Staatshilf­en einen gangbaren Weg. Brüssel sei von der Maximalfor­derung, Hilfen sollten wie bisher gehandhabt und sanktionie­rt werden, abgerückt; nun ist nur noch davon die Rede, Londons eigene Regeln müssten „dem gleichen Ziel“dienen. Wie dies überwacht werden kann, ohne den Europäisch­en Gerichtsho­f einzubezie­hen, dürfte eine der verblieben­en Schwierigk­eiten sein.

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FOTO: GLYN KIRK/AFP

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