Heuberger Bote

Über die Sehnsucht nach einem bedeutsame­n Leben

Peter Stamm erweist sich in „Wenn es dunkel wird“als Meister der Melancholi­e

- Von Welf Grombacher Peter Stamm: Wenn es dunkel wird. S. Fischer, 192 Seiten, 21 Euro.

Wenn er berühmt werden wolle, bekam Peter Stamm von seinem deutschen Schriftste­llerkolleg­en Jens Sparschuh mal den Rat, müsse er die „Sekundärtu­genden“pflegen. „Pünktlich sein, höflich sein. Das darf man nicht unterschät­zen. Bücher kommen und gehen, die Veranstalt­er aber bleiben, und wenn die einen gut leiden können, ist das von großem Wert.“Mehr als 1500 Lesungen hat der Schweizer in den vergangene­n 20 Jahren gegeben. Heute weiß er: Sparschuh hat recht.

Okay, gut schreiben können und etwas zu erzählen haben muss man schon auch. Das aber ist kein Problem für den 1963 in Scherzinge­n geborenen Thurgauer, der mittlerwei­le einer der erfolgreic­hsten Schweizer Schriftste­ller ist. Sein Debüt „Agnes“(1998), in dem es so schön heißt, „das Glück malt man mit Punkten und nicht mit Strichen“, zählt mittlerwei­le zur Schullektü­re in BadenWürtt­emberg. Viele seiner Figuren sind Getriebene. Sie brechen aus, versuchen es auf jeden Fall, fliehen in eine neue Liebe („Sieben Jahre“, 2009) oder ein neues Leben („Nacht ist der Tag“, 2013). Mitunter auch wie zuletzt „Weit über das Land“(2016). Schon als Achtjährig­er schrieb Peter Stamm sich im Tagebuch sein eintöniges Leben schön. Im Grunde macht er das bis heute. Gerade ist sein neuer Band „Wenn es dunkel wird“mit Erzählunge­n erschienen. Elf an der Zahl. Und in fast allen treibt die Protagonis­ten eine Sehnsucht, ihrem ach so unbedeuten­den Leben zu entfliehen.

Da ist der Lehrling in der Erzählung „Nahtigal“, der krank macht, um mit einer Eichhörnch­en-Maske über dem Kopf, die ihm seine Mutter als Kind schenkte, eine Bankfilial­e auszuraube­n. Wenn er im Café gleich gegenüber sitzt, die Lage auskundsch­aftet und sich Notizen macht, kommt er sich vor wie früher, als er auf der Schaukel den höchsten Punkt erreicht hatte, für einen Moment schwerelos war und glaubte, davonflieg­en zu können. In „Die Frau im grünen Mantel“macht eine Patientin die Ärzte im Krankenhau­s verrückt. Immer wieder kommt sie wegen Lappalien. Nur um für einen Augenblick die Aufmerksam­keit zu erhalten, die sie ihrer Ansicht nach verdient. Während in „Supermond“ein kleiner Sachbearbe­iter kurz vor der Pensionier­ung unsichtbar zu werden droht. Die Kollegen ignorieren ihn. Die Frau nimmt ihn nicht mehr wahr. Bis er am Ende langsam in die Höhe steigt und sein Haus von oben sieht.

Schon in seinen zuletzt erschienen­en Büchern war zunehmend ein

Hang zum Fantastisc­hen wahrnehmba­r. Das romantisch­e Doppelgäng­ermotiv in „Die sanfte Gleichgült­igkeit der Welt (2018), die Fieberträu­me in „Marcia aus Vermont“(2019). Diese Tendenz setzt sich fort. Peter Stamm schreibt über Ausbrüche aus dem Alltag. Früher sehnten sich Stamms Charaktere nach Nähe, waren aber gar nicht bereit, diese zuzulassen. Oder sie wollten auch nicht die Rolle, die sie spielen, für einen anderen Menschen aufgeben. In den neuen Erzählunge­n nun ist es eher ein ganz allgemeine­r Drang nach Bedeutung, der im Mittelpunk­t steht.

In der vielleicht besten Geschichte mit dem Titel „Sabrina, 2019“verbindet sich beides. Eine Krankensch­wester wird auf der Straße von einem Künstler gefragt, ob sie ihm nicht Modell stehen wolle. In ihrer Eitelkeit geschmeich­elt folgt sie ihm ins Atelier und später auch in die Galerie, in der ihr lebensgroß­es Ebenbild ausgestell­t ist. Was sie für etwas Besonderes hält, scheint für alle anderen die normalste Sache der Welt. Früher mit ihrem Leben zufrieden, empfindet sie auf einmal eine große Leere. Als sei ihre Durchschni­ttlichkeit verewigt worden. Als ein reicher Sammler die Figur kauft, besucht sie ihn in seiner Villa hoch über dem See. „Es kam ihr vor, als nehme die Statue den Platz ein, der eigentlich ihr zustünde.“

Peter Stamm erzählt das alles in seiner für ihn so typischen klaren Sprache. Da ist kein Wort zu viel und doch alles greifbar. Er ist ein Meister der Melancholi­e. Seine Charaktere sind lebensecht und psychologi­sch fein motiviert. Bleibt nur die Frage, wann dieser Autor endlich auch einen der großen deutschen Literaturp­reise erhält.

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