Teilhabe am Leben
Das Sozialunternehmen Stiftung Liebenau wird 150 Jahre alt – Am Anfang stand eine „Pflege- und Bewahranstalt für Unheilbare“
LIEBENAU - Corona hat den Geburtstag eines der wichtigsten Sozialunternehmen des Südwesten ziemlich trübe werden lassen: kein Festakt zum 150-jährigen Bestehen der Stiftung Liebenau, keine Publikumsausstellungen zur wechselhaften Geschichte, zu den Dramen während der NS-Zeit oder zum noch jungen Aufstieg in die Riege mittelständischer Branchengrößen. Alles abgeblasen. Dafür wird Mundund Nasenschutz getragen. Ein ernüchterndes Jubiläum für die Stiftung mit ihren 8000 Beschäftigten, fast 120 Niederlassungen und Abertausenden von Betreuten.
Der 15. Oktober wäre ein Schlüsseltag im ganzjährig geplanten Veranstaltungsreigen gewesen. An diesem Tag hat die Urzelle der Stiftung 1870 in dem Dorf Liebenau unweit des Bodensees ihre Arbeit aufgenommen. Die Erinnerung daran geschieht jetzt vorwiegend im Internet. „Unumgänglich, dass es so gelaufen ist“, sagt Pressesprecherin Helga Raible. Schließlich habe die Stiftung seit Auftauchen des Virus andere Sorgen gehabt. Man glaubt es gerne – schon weil sich Pflegeheime als höchst sensibler Bereich in der CoronaKrise herausstellten, zumal im Bereich der Altenpflege. Das gesteigerte Problem dabei während des Frühjahrs: Die Stiftung betreibt solche Einrichtungen auch in Norditalien, seinerzeit Corona-Brennpunkt.
Offenbar haben die Hygienekonzepte aber gegriffen. Hiobsbotschaften blieben aus. Aus dem Stiftungsvorstand heißt es, sie seien auch nicht vorhanden gewesen. Fährt man dieser Tage durch abgeerntete Hopfengärten und Obstanlagen nach Liebenau, scheint auf den ersten Blick sogar alles wie immer zu sein: der zweispitzige Kirchturm, Verwaltungsbauten, Werkstätten, eine Klinik, die Gärtnerei und viel Betrieb. Nur die Masken fallen auf, dazu überall Spender für Desinfektionsmittel und penible Einlasskontrollen.
Zweck des Besuchs ist es, den Ursprüngen der Stiftung auf den Grund zu gehen. Der Weg führt in ein Werkstattgebäude mit dem
Architekturcharme der 1970er- und 1980er-Jahre. Ortstermin in einem der hell wirkenden Räume. Zwölf Beschäftigte konzentrieren sich dort auf ihr Tun: das Zusammenbauen von Leuchten für eine Elektrofirma. Leichtes Hämmern ist zu hören. Druckluftschrauber surren. An der Wand hängen Infos zur Arbeitssicherheit. „Auf die Genauigkeit und Sauberkeit kommt es beim Arbeiten an“, betont ein Beschäftigter. Worte, die natürlich jeder Meister gerne hört.
Eigentlich wirkt alles so, wie man es von einer durchschnittlichen Montagewerkstatt kennt – bloß dass sie nicht durchschnittlich ist. Hier arbeiten Menschen mit geistigen Einschränkungen. Die Idee dabei: Sie sollen am Leben teilhaben können. Klienten werden sie von den Betreuern genannt. „Ihre Förderung ist zentral. Schön ist jede Entwicklung der Klienten, die vorwärts geht“, betont Bruno
Stemmer, zuständig für die Produktionssteuerung und Arbeitsvorbereitung in der Werkstatt.
Dies fällt im heutigen Sprachgebrauch in den Bereich Inklusion. „Daran arbeitet die Stiftung letztlich von Anfang an“, meint Liebenau-Sprecherin Raible. Zumindest war das bloße Ruhigstellen von Behinderten nie die hiesige Idee. Aber der Blick auf diese Menschen war eben vor 150 Jahren doch anders gewesen. Darauf weist bereits der zeitgenössische Name der Stiftungsurzelle hin: eine „Pfleg- und Bewahranstalt für Unheilbare“.
Ihre Gründung erfolgte, als Behinderungen oft noch als Strafe Gottes eingestuft wurden und Betroffenene nichts galten. Selbst die junge Stiftung konnte sich zumindest vom sprachlichen Zeitgeist nicht lösen. In einem Brief fürs Spendensammeln von 1870 ist von „Blödsinnigen“die Rede oder auch von „ekelerregenden Kranken“, die unterstützt werden sollten. Rückblickend erscheint es deshalb umso erstaunlicher, dass es überhaupt zu der Pflegeeinrichtung kam. Dies hat wiederum mit dem katholischen Kaplan Adolf Aich zu tun.
Der Geistliche war 1859 ins nahe Tettnang gekommen. Krankenfürsorge war sein Steckenpferd. Aich fand Gleichgesinnte in der Stadt. Zusammen gründeten sie 1866 den St. Johann-Verein. Es entstand die Idee, ein Heim für chronisch Kranke und Behinderte zu schaffen. Wofür in Tettnang ein neues Gebäude errichtet werden sollte. Das Projekt scheiterte – laut Überlieferung auch am Widerstand vieler Bürger, die geballt keine Pflegebedürftigen vor Ort wollten.
Aich stieß jedoch in der Nachbarschaft auf eine Alternative: das Schlösslein Liebenau. Er akquirierte Spenden. Die Immobilie wurde gekauft und umgebaut. 1873 erkannte der württembergische König Karl die Statuten der Stiftung an. Sie betonten die Eigenständigkeit als private, christliche Einrichtung. Wobei es bis heute blieb. Im Paragraf 1 der Satzung heißt es konkret: Die Liebenau sei eine „kirchliche Stiftung privaten Rechts auf kirchlich-katholischer Grundlage“.
Trotz der katholischen Einfärbung kann aber jeder kommen. Geblieben ist auch der Ansatz, Menschen mit Behinderung nicht einfach abzustellen, sondern sie in den Alltag mit einzubeziehen – schon zur Steigerung des Selbstwertgefühls der Betroffenen, wie heutzutage erklärt wird. In den alten Zeiten verhieß der Alltag dabei Heuen, Viehhüten, das Mitarbeiten in der Schmiede der Bäckerei. Liebenau liegt weit auf dem flachen Land. Bis in die Gegenwart hinein bestimmte der dörflichbäuerliche Jahreslauf das Leben.
Die Stiftung wuchs. Aus fünf betreuten Menschen des Anfangs waren bis Ende des Ersten Weltkriegs bereits mehr als 500 geworden. Es hatte neben dem Schloss Neubauten gegeben. Doch Anfang der 1920er-Jahre schien plötzlich alles verloren zu sein: Die Hyperinflation nach dem Krieg vernichtete die Rücklagen der Stiftung. Ihre Auflösung wurde diskutiert. Erst eine deutschlandweite Finanzreform ermöglichte das Weitermachen.
Alles wieder gut? Für wenige Jahre schon. Dann fiel das Reich unters Hakenkreuz. Die schlimmsten Jahre der Stiftung kamen. Erst ließen die Nazis einen Teil der Liebenau-Bewohner zwangssterilisieren. 1940 begann dann im ganzen Reich das Vergasen von Menschen mit Behinderungen, von „unwertem Leben“, wie es im NS-Jargon hieß. 512 Menschen wurden von der Liebenau in den gefürchteten Bussen mit den abgetönten Scheiben wegtransportiert
– vor allem in die Tötungsanstalt Grafeneck auf der Schwäbischen Alb.
Dokumentierte Versuche der Stiftungsleitung, die Transporte zu verhindern, scheiterten. Nur einzelne zur Ermordung Vorgesehene konnten gerettet werden – bis heute ein historisches Trauma der Stiftung. Ein digitales Erinnerungsalbum namens „Aus unserer Mitte gerissen“zeigt dies. Besonders ergreifend ist der Abschiedsbrief von Helene Mackle an ihren Vater vom 1. Oktober 1940. Die 38-jährige Frau lebte wegen epileptischer Anfälle in der Stiftung Liebenau und wusste, was auf sie zukam. Ihr letzter Satz: „Bitte bete viel für meine Seelenruhe. Auf Wiedersehen, guter Vater, im Himmel.“
Nach Krieg und braunem Alptraum brauchte es etwas Anlauf, bis in Liebenau wieder Normalität einkehrte – durchaus mit Allerweltsschwierigkeiten. So vermeldet die Chronik schon für die 1950er-Jahre etwas höchst Aktuelles: den Mangel an Pflegekräften. Bis dahin hatte sich die Stiftung unter anderem auf Schwestern des oberschwäbischen Klosters Reute verlassen. Doch dort ging die Zahl der Nonnen stark zurück. Es mussten vermehrt weltliche Mitarbeiter gewonnen werden – ähnlich wie heute Sozialunternehmen längst jenseits der deutschen Grenzen, auch jenseits von Europa, nach Pflegekräften suchen.
Die Stiftung betreibt zum Beispiel aktuell ein Programm, um Leute in Indien zu gewinnen. Per Zufall hat sich vergangenes Jahr ergeben, dass die Vietnamesin Nguyen Tuong Vi bei der Stiftung in einer Hohentengener Seniorenresidenz am oberen Donautal eine Ausbildung zur Pflegekraft machen kann. „Eine große Chance für mich“, sagte sie damals. Für die Verantwortlichen der Liebenau war die junge Frau so etwas wie eine Vorhut neuer Mitarbeiter aus entfernten Weltgegenden. Dann kam jedoch Corona. „Wegen der Reisebeschränkungen geht gegenwärtig nichts mehr“, bedauert Pressesprecherin Raible.
Für den Moment ist diese Art von Corona-Pause tragbar für die
Liebenau – aber heikel mit Blick auf die Zukunft. Allein in Baden-Württemberg fehlen in der Altenpflege rund 3000 Arbeitskräfte. Bei der Stiftung kommt hinzu, dass sie grundsätzlich mehr Leute braucht, weil sie seit 30 Jahren enorm gewachsen ist. Ein Aufbruch aus dem idyllischen Liebenau und der beschaulichen Umgebung. Erste Schritte dazu erfolgten 1990. Es kam zum Einstieg in die Altenhilfe und -pflege. „Sie macht inzwischen rund 40 Prozent des Umsatzvolumens aus“, sagt Berthold Broll, einer der drei Stiftungsvorstände. Wobei der Gesamtumsatz im vergangenen Jahr bei rund 394,6 Millionen Euro lag. „Ein Fünftel davon wurde im Ausland erwirtschaftet“, fügt er an.
Für den Sprung über die Grenzen war 1998 das entscheidende Jahr. „Im Zusammenhang mit der Partnerschaft von Tettnang und Bregenz“, erzählt Broll, „kamen Vertreter der Vorarlberger Landeshauptstadt auf uns zu.“Am Schluss übernahm die Stiftung drei städtische Altenheime in Bregenz. Das Auslandsengagement wuchs – auch mithilfe kirchlicher Kanäle, etwa Bistümern, die ihre Pflegeheime in andere Hände geben wollten. Neben Österreich erschienen die Schweiz, Italien und die Slowakei auf der Stiftungslandkarte. Zudem gibt es eine Verbindung nach Bulgarien. Zahlreiche Tochtergesellschaften entstanden.
Jüngst hat das Wachstum zu etwas geführt, was neu im Unternehmen ist: ein Tarifstreit. Der Hintergrund: Üblicherweise werden die Liebenauer nach einem kirchlichen Lohn- und Gehaltssystem bezahlt. Eine Tochtergesellschaft war aber davon ausgenommen. Diese Ausnahmesituation sollte 2019 beendet werden. Dazu wurden Tarifverhandlungen mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi aufgenommen. Gegenwärtig wird an einer Lösung gearbeitet.
Wie soll es aber mit der Stiftung weitergehen? Für die Zukunft stellt sich Vorstand Broll eine weitere Expansion vor: Sie müsse aber auf „der Basis christlicher Werte, Professionalität und wirtschaftlicher Solidität“geschehen. Für den Kurs gibt es Lob aus der Sozialbranche. Er fände es sehr respektabel, dass die Stiftung Liebenau „immer offen ist für Innovationen und neue Fragestellungen“, teilt beispielsweise Alexander Künzel, Sprecher des bundesweiten Sozialnetzwerkes „Soziales neu gestalten“und Chef der Bremer Heimstiftung mit.
Schöne Worte zum Jubiläum. Doch dieser Tage bricht wieder die raue Wirklichkeit über die Stiftung herein. Einmal mehr ist es Corona. Vielerorts schnellen die Infiziertenzahlen nach oben. Niemand weiß, ob der Kelch nochmals an der Liebenau vorbeigeht. „Gerüstet sind wir jedenfalls“, betont Pressesprecherin Raible. Ganz sorglos klingt das nicht. Ihr ernstes Gesicht passt zu den grauen Herbsttagen.