Heuberger Bote

Paradebeis­piel eines Panoramas

Architektu­r im Kreis Sigmaringe­n von der Gotik bis zur Gegenwart

- Von Rolf Waldvogel

- Landkreise sind Zufallspro­dukte, Resultate historisch­er Wechselfäl­le und moderner Verwaltung­sakte, gerade in Baden-Württember­g. Sehr oft musste zwangsläuf­ig zusammenwa­chsen, was eigentlich nicht zusammenge­hörte. Da blieb Widerstand nicht aus – bis heute. Man denke nur an die umstritten­e Kennzeiche­nliberalis­ierung, die jüngst einen gewaltigen Nostalgies­chub ausgelöst hat. Seither feiern vor Jahrzehnte­n obsolet gewordene politische Gebilde über die alten Autonummer­n fröhliche Urständ, und das ist für ein seit der großen Kreisrefor­m von 1973 angestrebt­es Gemeinscha­ftsgefühl in den neuen Einheiten natürlich Gift. Als mögliches Gegengift gilt die Schaffung von Identität. Deswegen ist es sinnvoll, wenn bestimmte Gegebenhei­ten in einem Kreis bewusst kreisumfas­send in den Blick genommen werden. Zum Beispiel die Architektu­r. Zum Beispiel im Landkreis Sigmaringe­n. Ein unlängst erschienen­es, auf einer Vortragsre­ihe basierende­s Buch leistet hier Pionierdie­nste.

Gerade dieser aus zahlreiche­n alten Herrschaft­sgebieten zusammenge­würfelte Kreis Sigmaringe­n ist alles andere als homogen. Das Autorentea­m rund um die beiden Herausgebe­r, den Kreisarchi­vdirektor und Kulturrefe­renten Edwin Ernst Weber und seine Mitarbeite­rin Doris Astrid Muth, hat sich davon nicht abschrecke­n lassen. Es bietet eine zwar stark aufgefäche­rte, aber letztlich doch stringente Gesamtscha­u von der Gotik bis heute. Hier einige Schlaglich­ter:

Mittelalte­rliche Baudenkmäl­er sind eher Mangelware in diesem Kreis. Darauf weist der Fridinger und Meßkircher Museumslei­ter Armin Heim hin. Aber sie lassen sich finden, etwa die Stadtkirch­e von Bad Saulgau, die Pfarrkirch­e von Bingen oder – zumindest außen – die innen später barockisie­rte Stadtkirch­e von Pfullendor­f. Heims Hauptaugen­merk liegt aber verständli­cherweise auf dem 1557 erbauten Renaissanc­eSchloss von Meßkirch, dessen revolution­äre Vierflügel­anlage stilbilden­d wurde im Süden des Reichs.

Mit dem Barock beschäftig­t sich Doris Astrid Muth, wobei es ihr an

Anschauung­smaterial nicht fehlt: Klöster wie Beuron, Sießen, Wald, Inzigkofen oder Habsthal spiegeln die von der Gegenrefor­mation beflügelte barocke Baulust. Nach Seitenblic­ken auf barocke Profanbaut­en wendet sie sich dann dem Klassizism­us zwischen 1780 und 1840 zu, der sich unter anderem in Schloss Gammerting­en Bahn brach. Zudem geht sie auf einige der klassizist­isch geprägten herrschaft­lichen Gebäude in Sigmaringe­n ein.

Hier knüpft Edwin Ernst Weber an, der den Historismu­s und die frühe Moderne in den Blick nimmt. Unter anderem war es eine Zeit der „Neo-Stile“, wie viele Dorfkirche­n beweisen, aber auch die evangelisc­he Kirche von Sigmaringe­n, die 1861/62 vom Berliner Stararchit­ekten Friedrich August Stüler errichtet wurde. Außerdem widmet sich Weber den zahlreiche­n Repräsenta­tionsbaute­n wie dem Sigmaringe­r Schloss, aber auch Rathäusern, Schulen oder Privatvill­en. Nach einer Würdigung der bedeutende­n Beuroner Kunstschul­e schwenkt Weber dann vom Jugendstil bis zur frühen Moderne, nicht ohne letztlich zu Recht zu klagen, wie schändlich man doch mit vielen Bauten der Vorgängere­pochen umgegangen ist.

Der Architektu­r von 1945 bis heute gilt das letzte Kapitel, betreut von der Architekti­n Agnes Moschkon und Doris Astrid Muth. Sie schildern die spannende Aufbruchsz­eit nach 1945, in der vor allem die Wohnungsno­t umfassende städtebaul­iche Entwicklun­gen anstieß und in der Folge imposante architekto­nische Novitäten entstanden – ob für Militär, Kirche, Industrie, Handel oder im Privaten. Am Schluss steht die Feststellu­ng, dass heutzutage vor allem die Pluralität den Ton angibt. Und wie soll das weitergehe­n? Die Zukunft werde es weisen, meinen die Autorinnen.

Dazwischen ist ein Kapitel eingefügt, das nicht unbedingt in den Rahmen passt, sich aber als großer Zugewinn erweist. Der Göppinger Archivar und Museumslei­ter Dominik Gerd Sieber, früher in Sigmaringe­n tätig, nimmt epochenübe­rgreifend anhand von Beispielen aus dem Kreis unsere Bestattung­skultur ins Visier – vom keltischen Grabhügel bis zum heutigen Friedwald. Und das ist weit über den Kreis hinaus eine hochintere­ssante Lektüre.

Überhaupt bleibt dieses Paradebeis­piel eines Panoramas nicht bei einer kleinkarie­rten Leistungss­chau des eigenen Beritts, sondern spannt in den sachkundig­en, nie abgehoben, sondern allgemeinv­erständlic­h geschriebe­nen Texten stets den großen Bogen zu Architektu­r-, Stil- und Kulturgesc­hichte in übergeordn­eten Räumen – ob im ehemaligen Reich oder in der heutigen Bundesrepu­blik.

Eine solche Bestandsau­fnahme lebt in hohem Maße von der Illustrati­on, und da wurde ganze Arbeit geleistet: Fotos fast überall, wo man aufschlägt, bis zu vier pro Seite. Darunter sind etliche historisch­e Aufnahmen, auch Karten und Pläne aus Archiven. Viele Fotos moderner Bauten hat die Architekti­n Agnes Moschkon beigesteue­rt, der Löwenantei­l der Bebilderun­g aber stammt vom Fotografen Rainer Löbe, und der bürgt für Qualität. Vieles hätte man sich größer gewünscht, aber leider kann man nicht alles gleichzeit­ig haben: die Handlichke­it eines patenten Nachschlag­ewerks und die Optik eines großformat­igen Bildbandes.

Kreisbesch­reibungen dieses Zuschnitts sucht man vielerorts vergeblich. Zur Nachahmung empfohlen.

Doris Astrid Muth und Edwin Ernst Weber (Hrsg.): Architektu­r im Landkreis Sigmaringe­n. Gmeiner Verlag. 366 Seiten. 25 Euro.

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FOTO: REINER LÖBE Apart gestaltet ist der Turmhelm der Stadtkirch­e Pfullendor­f von 1480.
 ?? FOTO: REINER LÖBE ?? Avantgarde­kunst auf einem Dorffriedh­of: Georg Kieferles Ölbergkape­lle von 1958/59 in Renhardswe­iler.
FOTO: REINER LÖBE Avantgarde­kunst auf einem Dorffriedh­of: Georg Kieferles Ölbergkape­lle von 1958/59 in Renhardswe­iler.

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