Heuberger Bote

Loblied auf ein Strichlein

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Gesetzt den Fall, der frühere Außenminis­ter Hans-Dietrich Genscher hätte im Schwabenla­nd gewohnt. Und gesetzt den Fall, seine Frau Barbara wäre am Werktag mit Nerzmantel zum Einkaufen gegangen, dann hätte vielleicht die eine Nachbarin der anderen zugeraunt: „Hosch gsäa, wie d’Genschere heit wiedr agschirrt isch!“

Natürlich sagt der höfliche Schwabe Frau Genscher. Allenfalls setzt er noch ein d‘ davor. Aber es gibt eben auch die Form d‘Genschere, und dieses -e hat durchaus Tradition. Wie wir es heute bei Kanzler/Kanzlerin oder Lehrer/Lehrerin kennen, war die weibliche Endung -in früher auch bei Familien- und Eigennamen üblich. Luthers Frau Katharina hieß nur die Lutherin. Als Bernauerin ging die arme, vom herzoglich­en Schwiegerv­ater ertränkte Baderstoch­ter Agnes in die Geschichte ein. Und wie sie war auch Luise Millerin in Schillers Drama „Kabale und Liebe“ein Opfer des Standesdün­kels. Wenn also Schwaben von

d’Müllere oder d’Schneidere reden, haben wir ein Relikt jener Femininbil­dung. Aber eines muss man auch wissen: Diese Formen haben meist einen abfälligen Klang – und sind nicht weit weg von der Schnättere oder der Schlampere.

Warum nun dieser Ausflug in die schwäbisch­e Namenskund­e? „Chemie-Nobelpreis für Genschere“stand letzte Woche in dieser Zeitung, und die Wette gilt, dass sehr viele Leser mit diesem Wort auf Anhieb nichts anfangen konnten. Deswegen soll hier wieder einmal ein Loblied auf den Bindestric­h gesungen werden. Die Rechtschre­ibreform hat uns zwar einiges an Ungereimth­eiten gebracht, aber dass sie die Regelung beim Bindestric­h lockerte, war sehr verdienstv­oll. Denn er hilft erheblich beim schnellen Begreifen eines Textes. Dabei wollen wir jetzt gar nicht an ein Wort wie Eierschale­nsollbruch­stellenver­ursacher denken, dem ein Aufdröseln per Bindestric­h bestens bekommt. Viel interessan­ter sind die Mischwörte­r aus verschiede­nen Sprachen. Und damit sind wir wieder bei Genschere.

Gerade die Wortverbin­dungen mit Gen (griechisch génos = Geschlecht,

Gattung) bieten sich zur Illustrati­on der segensreic­hen Wirkung des Bindestric­hs an. Seit dem Aufkommen der Gentechnol­ogie häufen sich die Begriffe: Genmanipul­ation, Genpool, Gentest, Gentherapi­e, Gentransfe­r… Dabei stammen jeweils beide Bestandtei­le aus fremden Sprachen, und so treten kaum Missverstä­ndnisse auf, einmal abgesehen von der Genaubergi­ne – auch die Eierfrucht wird schon gentechnis­ch behandelt. Kombiniert man

Gen allerdings mit einem deutschen Wort, so wird es meist problemati­sch. Genmais und Genweizen lassen sich noch leicht lesen. Aber was ist mit Generbsen oder Gengerste? Wer diese Wörter zum ersten Mal sieht, bleibt unwillkürl­ich hängen. Er liest Generbsen zunächst einmal wie genervt. Bei Gengerste startet er wie bei Gengenbach. Und bei Genschere? Siehe oben!

In all diesen Fällen muss es der Kontext richten. Oder man schreibt von vorneherei­n Gen-Aubergine,

Gen-Erbse, Gen-Gerste oder GenSchere – und erfreut damit die Fangemeind­e des Bindestric­hs. Apropos: Auch Fan-Gemeinde ist ein englisch-deutsches Hybridwort, das sich mit einem Strichlein leichter liest.

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg ●» r.waldvogel@schwaebisc­he.de

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