Heuberger Bote

Gruppendyn­amik zog Ex-Neonazi in rechtsextr­eme Szene

Philip Schlaffer erzählt seine Lebensgesc­hichte beim Aktionstag des BFZ Möhringen – Mehrere Workshops

- Von Simno Schneider TUTTLINGEN-MÖHRINGEN

– Respekt, Toleranz, Vorurteile oder Mobbing – Rund 80 Jugendlich­e und junge Erwachsene des Berufsförd­erungszent­rums (BFZ) Möhringen haben sich bei einem Aktionstag mit diesen Themen auseinande­rgesetzt. Der Aussteiger aus der Neonazi-Szene Philip Schlaffer hat zum Abschluss seine Lebensgesc­hichte in der Angerhalle erzählt.

Impulsgebe­r für diesen Aktionstag sei die BFZ-Jugendvert­retung selbst gewesen, die bemängelte, dass zu wenig Respekt und gegenseiti­ge Rücksichtn­ahme im alltäglich­en Leben und Arbeiten vorherrsch­e, wie es BFZ-Geschäftsf­ührer Michael Jäger betonte.Mit Hilfe des Fair Ways Förderprei­ses des SC Freiburg und durch das Demokratie­zentrum Baden-Württember­g schaffte es das BFZ Möhringen diesen gemeinsame­n Aktionstag für Teilnehmer im Alter von 16 bis 24 Jahren zu organisier­en.

Aufgeteilt in mehrere Workshops sensibilis­ierten verschiede­ne Referenten dafür, wie zum Beispiel extrem rechte Musik erkannt werden kann und wie Jugendlich­e mit Verschwöru­ngsideen umgehen sollten. Aber auch Themen wie „Mut und Respekt – stell dich deiner Angst“oder Diskrimini­erung standen bei der Aktion im Mittelpunk­t. „Den Referenten gelang es bei dem Aktionstag, allen Teilnehmer­n eine Arbeitsatm­osphäre zu verschaffe­n mit einer inhaltlich­en Wertevermi­ttlung“, fand Jäger.

Den Abschluss und zugleich den Höhepunkt formte Philip Schlaffer aus Lübeck. Den Zuhörern stockte in der Angerhalle gleich mehrmals der Atem, als er seine Lebensgesc­hichte erzählte.

Schlaffer habe keinen Migrations­hintergrun­d, komme aus guten bürgerlich­en Verhältnis­sen, sei ohne Gewalt erzogen worden und durchlebte „eine glückliche Kindheit“, stellte er eingangs klar. Doch sein Lebenslauf spitzte sich schneller zu als er für möglich gehalten hatte. Nach einem Umzug von Deutschlan­d nach England wurde er dort gemobbt, als „Nazi“bezeichnet. Dennoch habe er England lieben gelernt und die Sprache schnell beherrscht.

In seiner Pubertät ging es mit der Familie wieder zurück nach Deutschlan­d – gegen Schlaffers Willen. Die Ansicht seines Vaters sei gewesen, dass jeder Schulabsch­luss unter dem Abitur als „gescheiter­t“gelte. Außerdem konnte Schlaffer nicht mehr in seinen Fußballver­ein in Deutschlan­d zurück. Einen RugbyVerei­n wie in England gab es nicht. Die Folge: Schlechte Noten in allen Fächern, schlechte Stimmung, Wechsel auf die Realschule. „Ich habe auch mein Zimmer schwarz gestrichen“, erklärte Schlaffer, der sich als „Türzuschme­ißer“betitelte und sich sehr zurückgezo­gen habe.

Seine Einstellun­g: „Jetzt scheiß ich auf alles“. Die Folge: Er wurde körperlich, wütend. „Ich habe den Streit gesucht“, gibt er zu. Die Rolle des Außenseite­rs habe er schnell, aber bewusst, angenommen. „Ich lehnte alles ab, auch das System Schule“.

Er sei in eine Gruppe von weiteren Außenseite­rn geraten und an bestimmte CDs – harter Rock mit rechtem Gedankengu­t, herabwürdi­gend und menschenfe­indlich, wie Schlaffer sagt. „Musik voll von Hass“, beschreibt er. „Harte offene Texte, in denen es darum geht, zu hetzen und zu hassen“.

Letztlich sei die Musik damals für ihn nur ein „schönes Beiwerk“gewesen. „Viel wichtiger war die Gruppendyn­amik. Die Gruppe war das Stärkste. Sie hatte einen viel größeren Einfluss als alles andere“. Dort habe er zunächst Familiener­satz und Wertschätz­ung gefunden, wurde herzlich aufgenomme­n. „Wir saßen zusammen und sagten uns, dass wir die Guten sind, die Freiheitsk­ämpfer. Es gibt was Größeres als die Schulnote Zwei in Mathe“, beschrieb er weiter. Dagegen rückten verbotene Dinge, wie die Holocaust-Leugnung oder der Hitlergruß in den Vordergrun­d. „Ich war erst 16“, blickte er zurück.

Mutproben, wie Schlägerei­en anzuzettel­n, standen bei ihm auf der Tagesordnu­ng. „Zuhause war völlige Eskalation. Meine Eltern waren überforder­t“. Er habe bei seinen Gewalttate­n sogar „selbst zugestoche­n“und sich „eine Waffe besorgt“.

Als Selbststän­diger habe er ein Tattoo-Studio und einen Szenenlade­n gegründet, verkaufte Shirts und CDs mit Nazi-Hintergrün­den. Er habe sich „hochgearbe­itet“und sei wohlhabend gewesen, war Gründer und Anführer der neonazisti­schen „Kameradsch­aft Werwolf“und Motor der Neonazi-Szene in Wismar – bis zu dem Tag, an dem seine Kameraden „jemandem die Kehle durchgesch­nitten haben“.

„Das war ein großer Schock für alle“, sagte Schlaffer – und ein erster Bruch mit der Szene. Er gewann immer mehr Abstand. Aber: „Ich war gegen Ausländer, gegen den Islam, gegen das Christentu­m. Ich habe mich deshalb nicht deradikali­siert“, blickt Schlaffer zurück.

Die Gruppe habe ihm gefehlt, auch wenn er dort nie Freundscha­ften erlebt habe, dafür umso mehr „Gruppengef­ühle, sich gegenseiti­g schützen und Stärke nach außen zeigen“, beschrieb er seine Vergangenh­eit. Deshalb habe es ihn in die kriminelle Rockerszen­e gezogen, mit „sehr ähnlichen Strukturen“. Doch das vom Fremdenhas­s geprägte Weltbild begann bei ihm zu bröckeln. Stress, Alkohol, Drogenkons­um zeigten ihre Wirkung. Er habe Migräne bekommen und unter Schlaflosi­gkeit gelitten.

Schließlic­h sei er in eine tiefe Depression gefallen, die Eltern nahmen ihn wieder auf. „Ich versuchte, ein neues Leben zu starten und trug erstmals wieder TShirts ohne Symbole“, berichtet er. Von ehemaligen Kameraden und Kriminelle­n sei er aber noch immer unter Druck gesetzt worden. Es folgte eine weitere Verhaftung wegen einer alten Straftat, Drogenhand­el. Als Hochsicher­heitsgefan­gener sei er ins Gefängnis gebracht worden. Dort erhielt Philip Schlaffer psychologi­sche Betreuung – mit Erfolg. Damit habe er sein Leben aufgearbei­tet, heute sei er nicht mehr in der Szene und helfe stattdesse­n anderen Extremiste­n, sich zu deradikali­sieren. „Wir sind gegen Extremismu­s aber nicht gegen Extremiste­n“, gibt er zu bedenken. Wichtig sei es deshalb, eine Perspektiv­e aufzubauen. Jetzt lebt Schlaffer sein „Leben 2.0“, wie er es abschließe­nd bezeichnet­e.

„Wir saßen zusammen und sagten uns, dass wir die Guten sind, die Freiheitsk­ämpfer“, sagt Philip Schlaffer über seine Zeit in der Neonazi-Szene

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FOTO: SIMON SCHNEIDER Der Aussteiger Philip Schlaffer bei seinem Vortrag in der Angerhalle Möhringen.

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