Merkel fordert „nationale Kraftanstrengung“
Gaststätten schließen, Kontakte werden eingeschränkt, Kitas und Schulen bleiben offen
BERLIN/STUTTGART - Angesichts rasant steigender Infektionszahlen haben sich Bund und Länder auf drastische Einschränkungen beim Kampf gegen die Pandemie geeinigt. Es gehe darum, einen gesundheitlichen Notstand zu vermeiden, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach einer Konferenz mit den Ministerpräsidenten der Länder. Merkel sprach von einer „nationalen Kraftanstrengung“, die „harte und belastende Maßnahmen“für das gesamte Land umfasse.
So sollen unter anderem Hotels, Restaurants, Kinos und Theater ab dem kommenden Montag für den gesamten Monat November schließen. Zumachen müssen auch Kosmetikstudios und Massagepraxen, Friseure sind dagegen ausgenommen.
Auch der gemeinsame Aufenthalt in der Öffentlichkeit wird nur noch Angehörigen des eigenen und eines weiteren Hausstandes – insgesamt maximal zehn Personen – gestattet sein. Verstöße gegen diese Kontaktbeschränkungen sollen die Ordnungsbehörden sanktionieren.
Der Groß- und Einzelhandel bleibt unter Auflagen zur Hygiene geöffnet. Schulen und Kindergärten bleiben ebenfalls offen. Heute sei „ein schwerer Tag, auch für politische Entscheidungsträger“, sagte die Bundeskanzlerin, „weil wir wissen, was wir den Menschen zumuten“.
Baden-Württemberg Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) warb um Verständnis für die Einschnitte. Die Lage habe sich dramatisch zugespitzt. „Deshalb müssen wir das Virus noch aktiver bekämpfen.“Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) appellierte an die Verantwortung jedes Einzelnen: „Wir sind eine Solidaritätsgesellschaft und kein Egoland.“
Kritik kommt dagegen vonseiten der Wirtschaft, die dramatische Auswirkungen
befürchtet. So sagte Dehoga-Sprecher Daniel Ohl der „Schwäbischen Zeitung“: „Gastgewerbliche Betriebe sind nachweislich keine Pandemie-Treiber.“Die Einschränkungen seien für viele Betriebe existenzbedrohend.
BERLIN (dpa) - Noch ist der Notstand nicht da – mit einschneidenden Maßnahmen aber wollen Bund und Länder eine weitere unkontrollierte Ausbreitung des Coronavirus mit möglichen unabsehbaren Folgen verhindern. Für Bürger und Firmen im ganzen Land bedeutet das: Es wird ein harter Monat. Vor zwei Wochen, als die Ministerpräsidenten mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in Berlin zusammensaßen, da war es noch ein mühsames Ringen um eine letztlich überschaubare Verschärfung der gemeinsamen Anti-Corona-Maßnahmen. Merkel machte aus ihrer Unzufriedenheit damals auch keinen Hehl. „Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwenden“, sagte sie in der internen Runde. „Es reicht einfach nicht, was wir hier machen.“
Zwei Wochen später: Die Zahl der bundesweiten Neuinfektionen hat sich inzwischen verdreifacht, von 5000 auf rund 15 000 am Tag. Das ist der Höchstwert seit Beginn der Pandemie. Die Deutschlandkarte des Robert-Koch-Instituts hat sich von Tag zu Tag immer dunkelroter gefärbt. Immer mehr Landkreise überschreiten die Schwellen von 50, 100 oder gar 200 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen. Zwei Landkreise in Bayern mussten deshalb zuletzt komplett dicht machen und auch Schulen und Kitas vorübergehend schließen. Die Zahlen steigen aber in allen Bundesländern immer weiter an. Und in vielen europäischen Nachbarländern sind die Werte längst viel dramatischer.
Wohl deshalb geht an diesem Mittwochnachmittag nun plötzlich alles überraschend schnell: Fast schon im Minutenrhythmus einigen sich Bund und Länder auf strikte Kontaktbeschränklungen, die Schließung von Restaurants, Bars, Kinos, Theatern, Schwimmbädern und vielen anderen Freizeiteinrichtungen – kurz: auf die drastischsten Einschränkungen des öffentlichen Lebens in ganz Deutschland seit dem ersten Corona-Lockdown im Frühjahr. Zentraler Unterschied: Schulen, Kindergärten und der Einzelhandel sollen diesmal offen bleiben. Nach gut vierstündigen Beratungen ist das Paket beschlossene Sache. Mit ernsten Mienen treten die Kanzlerin, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) vor die Presse und verkünden die neuen, harten Einschnitte.
Es sei ein schwerer Tag für politische Entscheidungsträger, sagt Merkel. „Ich will das ausdrücklich sagen, weil wir wissen, was wir den Menschen zumuten.“Merkel, die Naturwissenschaftlerin, listet auf, wie schnell sich die Zahl der Corona-Patienten auf Intensivstationen und die Zahl der beatmeten Patienten zuletzt verdoppelt habe. Wenn dies so bliebe, würde das Gesundheitssystem binnen weniger Wochen an die Grenze der Leistungsfähigkeit kommen, warnt die Kanzlerin. „Wir müssen handeln, und zwar jetzt“, mahnt sie. Man müsse eine nationale Gesundheitsnotlage vermeiden. „Die Kurve muss wieder abflachen.“
Merkel fordert eine befristete, „nationale Kraftanstrengung“. Die Maßnahmen sollen ab 2. November gelten, und zwar zunächst bis Monatsende. In der Öffentlichkeit dürfen sich dann nur noch Angehörige zweier Haushalte treffen – maximal zehn Personen. Feiern in Wohnungen und privaten Einrichtungen werden als „inakzeptabel“bezeichnet. Restaurants, Bars, Clubs, Diskotheken und Kneipen werden geschlossen. Erlaubt sind weiter Lieferdienste und Essen zum Mitnehmen. Auch Kantinen dürfen öffnen. Freizeiteinrichtungen werden geschlossen. Dazu gehören Theater, Opern, Konzerthäuser, Messen, Kinos, Freizeitparks, Saunen, Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen und Bordelle. Alle Veranstaltungen, die der Unterhaltung dienen, werden untersagt. Fitnessstudios, Schwimm- und Spaßbäder werden geschlossen. Der Amateursportbetrieb wird eingestellt, Vereine dürfen also nicht mehr trainieren. Individualsport, also etwa alleine oder zu zweit joggen gehen, ist weiter erlaubt. Profisport wie die FußballBundesliga ist nur ohne Zuschauer zugelassen.
Bürger sollen auf private Reisen, Tagesausflüge und Verwandtenbesuche verzichten – auch im Inland. Hotels und Pensionen dürfen keine Touristen mehr aufnehmen. Kosmetikstudios, Massagepraxen und Tattoo-Studios
werden geschlossen, weil hier der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann. Medizinisch notwendige Behandlungen etwa beim Physiotherapeuten oder Fußpflege sind weiter möglich. Auch Friseure bleiben geöffnet, genauso wie der Einzelhandel. Es gibt aber Vorschriften, wie viele Kunden gleichzeitig im Laden sein dürfen. Schulen und Kindergärten bleiben offen. Genauso Einrichtungen der Sozial- und Jugendhilfe.
Es ist ein kräftiger Kurswechsel, den Bund und Länder nun also vollziehen: Vor zwei Wochen noch hatten Merkel und die versammelten Ministerpräsidenten ungefähr doppelt so lange gebraucht, um sich auf schärfere Gegenmaßnahmen nur für Corona-Hotspots zu verständigen. Nun ist bei allen Beteiligten die Erkenntnis gereift, dass all dies nicht genug ist. „Das bisher Getane reicht nicht – wir müssen mehr tun“, sagt Söder. Deshalb nicht mehr nur regionale Gegenmaßnahmen, nicht nur landesweite Einschränkungen, sondern bundesweite. Es ist eine Notbremse, an der nun alle gemeinsam ziehen – in der Hoffnung, dass der ungebremste Anstieg der Neuinfektionen gestoppt wird.
Und: Merkel ist wieder die unbestrittene Krisen-Kanzlerin. Sie gibt die Richtung vor, führt Regie, sie hat deshalb in der Pressekonferenz auch eindeutig den größten Redeanteil. Manche Bundesländer, so ist zu hören, haben einerseits eingesehen, dass man nun sofort und schnell und umfassend handeln müsse. Andererseits sind sie froh, dass es eine bundeseinheitliche Linie gibt, in die sich alle einreihen können.
Fakt ist: Die Corona-Notbremse hat massive Auswirkungen für viele Unternehmen und Beschäftigte. Das ist ein schwerer Schlag für die Wirtschaft, die eindringlich vor einem zweiten Lockdown gewarnt hatte und eine Insolvenzwelle fürchtet. Im Frühjahr hatte das Herunterfahren des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens zu einem beispiellosen Einbruch der Wirtschaftsleistung geführt. Im Sommer war die Wirtschaft insgesamt wieder auf Erholungskurs, wobei die Geschäfte in einzelnen Branchen nach wie vor nicht in Gang kamen. Über allem steht nun das Ziel, die Zahl von Kontakten zu verringern. Deswegen fordern Bund und Länder die Unternehmen auch „eindringlich“auf, Heimarbeit zu ermöglichen – wo immer dies umsetzbar ist. Um die Folgen des November-Teil-Lockdowns abzufedern, entschließt sich die Bundesregierung zu neuen, „außerordentlichen“Milliardenhilfen.
Hätte man nicht vor zwei Wochen konsequenter handeln müssen, wird die Kanzlerin am Abend gefragt. Theoretisch ja, sagt Merkel. Aber: Vor zwei Wochen sei die „politische Akzeptanz“noch nicht so da gewesen. „Wir sind aber auf die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger angewiesen“, betonte sie.