Muss diese Operation wirklich sein?
Patienten holen gern eine zweite Meinung ein – und hören meist auch darauf
Ob Schulter-OP oder Mandel-Entfernung: Vor vielen Eingriffen kann es sich lohnen, eine ärztliche Zweitmeinung einzuholen – bei manchen wird das sogar gesetzlich empfohlen. Ein Überblick über die wichtigsten Fragen zum Thema.
Darf man immer eine zweite ärztliche Meinung einholen?
In Deutschland gilt freie Arztwahl, deshalb ist auch eine Zweitmeinung für Kassenpatienten wie für Privatpatienten kostenlos. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung weist allerdings darauf hin, „nicht wegen jedem Schnupfen zu drei Ärzten zu rennen“. Es geht vielmehr um eine weitere ärztliche Einschätzung vor „erheblichen chirurgischen Eingriffen“, wie es im Sozialgesetzbuch steht.
Muss man seinen Arzt darauf hinweisen, dass man eine Zweitmeinung einholt?
Nein. Aber es ist laut Verbraucherzentrale-Bundesverband zufolge auf jeden Fall sehr sinnvoll. Nur so kann man auch Berichte, Laborwerte und Ergebnisse von Röntgenuntersuchungen zur Zweitbehandlung mitnehmen – und dadurch überflüssige Doppeluntersuchungen vermeiden. Patienten haben ein Recht auf Kopien ihrer Patientenakte sowie der vorliegenden Befunde. Der behandelnde Arzt darf die Kosten für die Kopien allerdings in Rechnung stellen.
Für einige Krankheiten und Eingriffe gibt es ein sogenanntes gesetzlich geregeltes Zweitmeinungsverfahren. Was hat es damit auf sich?
Der Gemeinsame Bundesausschuss hat drei Krankheiten und Eingriffe festgelegt, die in Deutschland besonders häufig sind, unter Ärzten oft als strittig gelten beziehungsweise eine hohe Relevanz für den Patienten haben: Gebärmutterentfernung, Mandeloperation und Schulterarthroskopie. Die Zweitmeiner sollen über mögliche Therapie- und Handlungsalternativen informieren.
Wie unterscheidet sich das geregelte Zweitmeinungsverfahren von einer normalen ärztlichen Zweitmeinung?
„Beim geregelten Zweitmeinungsverfahren sollen Ärzte die Patienten explizit darauf hinweisen, dass eine zweite Meinung sinnvoll ist“, sagt Tanja Hinzmann von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Zudem gibt es eine Liste von Ärzten, die für das Einholen einer Zweitmeinung empfohlen werden. „Das sind sehr erfahrene Ärzte für die jeweilige Krankheit und sie müssen sich auch entsprechend zertifizieren lassen und unabhängig beraten“, sagt
Hubert Forster von der Techniker Krankenkasse (TK) Baden-Württemberg. So soll – anders als wenn der Patient sich selbst einen Arzt für eine Zweitmeinung sucht – sichergestellt werden, dass die Zweitmeinung auch tatsächlich aussagekräftig ist und unabhängig von wirtschaftlichen Interessen eines Krankenhauses oder einer Krankenkasse. Die Ärzte auf der Liste dürfen nicht in derselben Praxis oder Klinik wie der erste Arzt arbeiten. Und sie dürfen nicht an dem Krankenhaus beschäftigt sein, in dem die Operation stattfinden soll.
Warum wird ausgerechnet für Mandeloperationen, Gebärmutterentfernung und Schulterarthroskopie das Zweitmeinungsverfahren geregelt?
Müssen die Mandeln raus oder nicht? Diese Frage wird unter Ärzten sehr häufig diskutiert, zudem gehört eine Mandel-Operation zu den häufigsten Eingriffen in Deutschland. Ähnliches gilt für die Gebärmutterentfernung, welche die fünfthäufigste Operation bei Frauen ist. „Jedes Jahr werden allein in Baden-Württemberg rund 14 000 Patientinnen die Gebärmutter entfernt. Das ist ein Eingriff mit weitreichenden Folgen für die Betroffenen“, sagt Hubert Foster von der TK Baden-Württemberg. Seit Februar 2020 gehört auch die Schulterarthroskopie – also ein operativer Eingriff, bei dem ins Schultergelenk geblickt werden kann – als dritter Eingriff dazu.
Der Grund: „Viele Probleme an der Schulter können nach Einschätzung von Experten ohne Operation, mit Physiotherapie, Medikamenten, eventuell Spritzen ins Gelenk erfolgreich behandelt werden“, sagt Foster.
Gilt das geregelte Zweitmeinungsverfahren auch für Privatpatienten?
„Nein, die Regelungen des Gemeinsamen Bundesausschusses und der gesetzlichen Kassen sind nicht bindend für die Kostenerstattung der Privaten Krankenversicherung“, sagt Dominik Heck vom Verband der Privaten Krankenversicherung. Allerdings sind auch die privaten Krankenversicherungen dazu verpflichtet, ihren Patienten eine normale ärztliche Zweitmeinung zu erstatten – wenn dazu Vorbefunde genutzt werden. „Dass dazu hoch spezialisierte Ärzte in den Unikliniken aufgesucht werden dürfen und die Kosten dafür erstattet werden, ist ein besonderes Charakteristikum des Versicherungsschutzes in den privaten Krankenversicherungen“, sagt Dominik Heck. Er empfiehlt, sich hierzu beim jeweiligen Versicherer zu erkundigen, ob es entsprechende Kooperationen mit Krankenhäusern oder Ärzten gibt.
Holen die Deutschen häufig eine zweite ärztliche Meinung ein?
89 Prozent der Deutschen schätzen die Möglichkeit, eine ärztliche Zweitmeinung einholen zu können. Diejenigen, die schon einmal einen zweiten Arzt hinzugezogen haben, vertrauen diesem auch meist: 72 Prozent änderten daraufhin ihre Entscheidung. Zu diesen Ergebnissen kommt eine aktuelle Befragung des Gesundheitsmonitors.
Gibt es konkrete Zahlen, wie viele Operationen durch das geregelte Zweitmeinungsverfahren bislang vermieden werden konnten?
Nein. Die Techniker Krankenkasse bietet jedoch zusätzlich ein spezielles Zweitmeinungsangebot bei Wirbelsäulen-Operationen – und kann hierzu auch Zahlen vorweisen. Eine Auswertung für die Jahre 2013 bis 2019 zeigt, dass der Großteil dieser Eingriffe überflüssig ist: Bei der Zweitbegutachtung von mehr als 6000 Betroffenen in bundesweit 30 Schmerzzentren bekamen acht von zehn Teilnehmern die Empfehlung, sich konservativ behandeln zu lassen. „In den meisten Fällen ist es bei Rückenpatienten zielführender, mit Physiotherapie, Schmerzmitteln, Trainingstherapie und gegebenenfalls auch einer Verhaltenstherapie zu behandeln“, sagt Thomas Tusker, Anästhesist und Spezialist für chronische Schmerzpatienten am Schmerzzentrum Fellbach, welches am Programm der TK teilnimmt.
Warum gibt es nicht auch für weitere Eingriffe ein geregeltes Zweitmeinungsverfahren?
Einige werden laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung folgen. Zudem bieten viele gesetzliche Krankenkassen unabhängig von den gesetzlichen Richtlinien für einige Krankheiten geregelte Zweitmeinungsverfahren an. Bei der Techniker Krankenkasse gibt es dies beispielsweise für Wirbelsäulen-Operationen, die BKK Süd bietet es bei Krebs an. Auch vor Eingriffen an Hüfte, Knie, Schulter oder Herz bieten viele Krankenkassen gezielt weitere Begutachtungen durch Spezialisten an. Der Ablauf ist sehr unterschiedlich: Mal geschieht die Beratung durch spezielle Online-Portale, über die Unterlagen hochgeladen werden können. Mal wird ein Termin mit einem kooperierenden Spezialisten vermittelt. Entsprechende Informationen gibt es bei den jeweiligen Krankenkassen.
Wer trifft am Ende die Entscheidung, ob ein Eingriff stattfindet oder nicht?
Auch die Zweitmeinung nimmt dem Patienten diese Entscheidung nicht ab: Er entscheidet letztlich selbst, was medizinisch unternommen werden soll.