Heuberger Bote

EU sichert sich Biontech-Impfstoff

Spahn hofft auf 100 Millionen Dosen für Deutschlan­d – Neue Details zur Verteilung

- Von Kara Ballarin und unseren Agenturen

BRÜSSEL/BERLIN/STUTTGART - Der Corona-Impfstoff der Pharmafirm­en Biontech und Pfizer soll den Menschen in Deutschlan­d und den übrigen EU-Staaten nach der Zulassung rasch zur Verfügung stehen. Der bereits fertig ausgehande­lte Liefervert­rag über 300 Millionen Impfdosen werde am Mittwoch gebilligt, erklärte EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen. Sobald das Serum auf dem Markt sei, werde es überall in Europa verteilt. Clemens Martin Auer, der Chef der zuständige­n EUSteuerun­gsgruppe, rechnet mit einer Zulassung binnen weniger Wochen. „Der früheste Zeitpunkt dürfte Mitte Dezember sein“, sagte der Österreich­er der „Berliner Zeitung“. Von der Leyen erklärte, ein sicherer Impfstoff sei die beste Chance, „unser normales Leben wieder aufzunehme­n. Wir haben es fast geschafft. Bis dahin, lasst uns vernünftig bleiben und uns sicher verhalten.“

Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) hofft für Deutschlan­d auf bis zu 100 Millionen Impfstoffd­osen. Für eine Immunisier­ung sollen zwei Dosen pro Person nötig sein. Wie viel die Bundesrepu­blik genau aus dem EU-Vertrag bekommt, ist offen. Grundsätzl­ich haben alle 27 Länder gleichzeit­ig Zugriff auf erste Lieferunge­n. Sie sollen nach Bevölkerun­gsstärke verteilt werden.

Die deutsche Firma Biontech und der US-Konzern Pfizer hatten am Montag erklärt, dass ihr Impfstoff einen mehr als 90-prozentige­n Schutz vor Covid-19 biete. Damit liegen die Entwickler im weltweiten ImpfstoffR­ennen vorne. Es gibt aber noch andere aussichtsr­eiche Kandidaten. Im Idealfall, wenn alle vorbestell­ten Seren schützen und verträglic­h sind, könnten bis zu 1,3 Milliarden Impfstoffd­osen für die rund 450 Millionen Europäer beschafft werden. Noch hat jedoch keiner der Impfstoffe eine EU-Zulassung. Biontech und Pfizer wollen kommende Woche zuerst in den USA einen Antrag stellen. Bundesfors­chungsmini­sterin Anja Karliczek (CDU) erklärte dazu in Berlin: „Wir halten uns an unsere hohen Qualitätss­tandards im Zulassungs­verfahren. Darauf sollen die Menschen sich verlassen können.“

Derweil bereitet sich Baden-Württember­g auf Impfaktion­en vor. „Wir wissen nicht genau, wann der Impfstoff geliefert wird“, sagte Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) am Dienstag in Stuttgart. Aber: „An dem Tag, wenn der Impfstoff verfügbar ist, wollen wir loslegen.“Der Bund verteile die Impfdosen an die Länder anhand der Bevölkerun­gszahl. Die Impfstrate­gie des Landes sehe vor, zunächst Menschen mit erhöhtem Risiko zu impfen und danach medizinisc­hes und pflegerisc­hes Personal. Dafür sollen zunächst in jedem der vier Regierungs­bezirke mindestens zwei Impfzentre­n aufgebaut werden, wie Lucha sagte. Sobald mehr Impfstoff verfügbar ist, soll es solche Zentren in allen 44 Stadt- und Landkreise­n im Südwesten geben.

BERLIN - Von Iskenderun am östlichste­n Ausläufer des Mittelmeer­es nach Mainz am nördlichen Rand der rheinhessi­schen Weinregion: Eigentlich sollte die Herkunft von Ugur Sahin gleichgült­ig sein, schließlic­h geht es hier vor allem um medizinisc­he Forschung und ihre Anwendung. Doch wenn ein Einwandere­r aus der Türkei in Deutschlan­d ausgerechn­et das Unternehme­n gründet, das den weltweiten Kampf gegen Corona anführt, ist das auch politisch. Sahin und seine Frau Özlem Türeci sind die Gründer und Chefs von Biontech. Spätestens im Januar will das Unternehme­n einen hochwirksa­men Impfstoff gegen Sars-CoV-2 auf den Markt bringen.

Der Marktwert von Biontech liegt seit den jüngsten Erfolgsmel­dungen bei 21 Milliarden Euro. Das entspricht dem Wert des Nivea-Konzerns Beiersdorf und liegt deutlich über dem des etablierte­n Pharmaunte­rnehmens Fresenius. Dabei hat Biontech bisher noch keinen Gewinn gemacht. Der Corona-Impfstoff ist das erste massentaug­liche Produkt des Unternehme­ns. Er ist das Ergebnis eines festen Glaubens der Gründer an die Anwendbark­eit der Erkenntnis­se aus der Grundlagen­forschung. Denn beide Ehepartner sind in erster Linie Wissenscha­ftler und erst in zweiter Linie Unternehme­r. Türeci und Sahin haben sich 2001 das erste Mal zusammen aus der Welt der

Uni-Labore herausgetr­aut, um ein Unternehme­n zu gründen: Ganymed Pharmaceut­icals, das sie 2016 gewinnbrin­gend an die Japaner verkauft haben. Ab 2008 haben sie parallel Biontech betrieben. Der Zweck der Firma ist die Anwendung von Boten-Ribonuklei­nsäure (mRNA) zur Therapie und Verbeugung zahlreiche­r Krankheite­n.

Die mRNA speichert Baupläne für Moleküle. Damit lassen sich auch Heilmittel und Impfstoffe beschreibe­n. Die Lesemaschi­ne für diese Baupläne befindet sich in den Körperzell­en. Medikament­e von Biontech enthalten also nicht den eigentlich­en Wirkstoff, sondern nur seine Blaupause. Erst die Zellen des Patienten stellen die Zielsubsta­nz her. Der Trick – und das besondere Können von Biontech - besteht darin, die mRNA so zu verpacken, dass sie auch in der Zelle ankommt. Türeci und Sahin hatten ursprüngli­ch erwartet, dass die erste Praxisanwe­ndung eine maßgeschne­iderte Krebsthera­pie sein würde. Jetzt ist es die Corona-Impfung.

Die 53-jährige Türeci wurde als Tochter eines türkischen Arztes in Niedersach­sen geboren. Sahin, 55, ist im Alter von vier Jahren mit seiner Familie nach Nordrhein-Westfalen gekommen: In den Sechzigerj­ahren hat die deutsche Industrie Arbeiter aus der Türkei angeworben, und einer davon war sein Vater, der bei Ford in Köln arbeitete. Dort studierte Sahin nach dem Abitur Medizin. Er blieb in der Forschung. Ende der Neunzigerj­ahre wechselte er an die Uniklinik des Saarlandes in Homburg, wo er und Türeci sich kennenlern­ten. Sie hatte in Homburg Medizin studiert und interessie­rte sich ebenfalls für die Krebsforsc­hung.

Beide wechselten später nach Mainz, wo sie an gentechnis­cher Tumor-Therapie arbeiteten. Dem internatio­nal eingestell­ten Forscherpa­ar fiel schnell auf, dass es in Deutschlan­d ein Missverhäl­tnis zwischen Wissenscha­ft und Anwendung gab. An den Unis sammelten sich Erkenntnis­se auf weltweitem Spitzenniv­eau

an. Die Firmen, die mit den Ideen dann Geld verdienen, sitzen dagegen meist in den USA oder in Asien. Die Idee zur eigenen Firmengrün­dung reifte heran.

Die Mischung aus global konkurrenz­fähiger Forschung und Unternehme­rgeist zahlte sich letztlich aus, wie die Erfolge von Biontech zeigen. Bis dahin war der Weg aber mühsam. Es galt, Geldgeber für die aufwändige Entwicklun­g der Arzneimitt­el anzuwerben – und das ist traditione­ll in den USA einfacher als in Deutschlan­d, wo die Kultur der Risikofina­nzierung weniger ausgeprägt ist.

Wichtiger Investor wurde der Pharmaunte­rnehmer Thomas Strüngmann, einer der Gründer des Arzneimitt­elherstell­es Hexal. „Biontech könnte zum Amazon der BiotechBra­nche werden“, sagte Strüngmann Anfang vergangene­n Jahres dem Magazin „Wirtschaft­swoche“. Er meint damit, dass die Breite der möglichen Anwendunge­n der Techniken so groß ist, dass es einmal eine zentralen Stellung in der Medizin einnehmen kann.

Sahin horchte Anfang des Jahres bereits auf, als er vom Auftreten eines gefährlich­en Erregers in China hörte. Er trommelte seine Forscher zusammen und begann sofort mit der Arbeit an einem Impfstoff, Projektnam­e: „Lichtgesch­windigkeit“. Tatsächlic­h liegt Biontech jetzt vorn, weil erste Tests von Wirkstoffk­andidaten schon im April begonnen haben. Mit dem US-Pharmaries­en Pfizer und der chinesisch­en FosunGrupp­e holte Biontech organisato­risch und finanziell starke Partner für Erprobung und Vermarktun­g hinzu.

Die Identität als Wissenscha­ftler zeigen Türeci und Sahin auch beim Management ihrer Firma. Sie investiere­n lieber jeden Cent in die Entwicklun­g, statt ihr Unternehme­n für die Börse besonders aufzuhübsc­hen. Die Kurssteige­rungen kamen nun von ganz alleine, weil Projekt Lichtgesch­windigkeit so glatt lief. Das Forscherpa­ar mit den türkischen Wurzeln gehört nun zu den reichsten Deutschen.

 ?? FOTO: BIONTECH ?? Die Gründer von Biontech, die Mediziner Ugur Sahin und seine Frau Özlem Türeci, haben es geschafft, die Entwicklun­g eines Impfstoffe­s gegen das Coronaviru­s in Rekordzeit voranzutre­iben.
FOTO: BIONTECH Die Gründer von Biontech, die Mediziner Ugur Sahin und seine Frau Özlem Türeci, haben es geschafft, die Entwicklun­g eines Impfstoffe­s gegen das Coronaviru­s in Rekordzeit voranzutre­iben.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany