Harte Landung
Vor 40 Jahren begann der Bau des Münchner Flughafens – Doch zum Jubiläum bleibt wegen Corona sogar die weltweit einzige Flughafen-Brauerei geschlossen
MÜNCHEN - Sein Jubiläum feiert der Flughafen München mit einem rauschenden Fest. Vier Tage lang strömen mehr als 50 000 Menschen auf das eigens errichtete Festivalgelände zwischen S-Bahnhof und Besucherpark, lauschen dort Livemusik, bestaunen historische Flugzeuge und fahren mit einem 18 Meter hohen Riesenrad.
Was klingt wie aus längst vergangenen Zeiten ist gerade mal drei Jahre her. Damals feierte der Flughafen München seinen 25. Geburtstag derart groß, ausschweifend und mit einer „Mia san mia“-Attitüde, wie man sie eigentlich bloß von den hiesigen Fußballern kennt. Und heute? Zum 40. Jahrestag des Baubeginns im November 1980? Ist dieses Jubiläum sogar der sonst so eifrigen Pressestelle des Flughafens nicht mal eine klitzekleine Meldung wert. „Ehrlich gesagt hatten wir das nicht auf dem Radar“, verrät ein Sprecher. „Und im Moment haben wir auch ganz andere Sorgen.“
Diese Sorgen drehen sich um ein Virus namens Sars-CoV-2 und sind am Flughafen allgegenwärtig – mal mehr, mal weniger sichtbar. Das fängt ja schon bei der Anreise an: Wer im Auto kommt, dem fällt sofort auf, dass nicht nur der Himmel über dem Erdinger Moos so gut wie leer ist, sondern auch die Zufahrtsstraßen zu den Terminals. Und in der S-Bahn kommt man sich kurz vor dem Ziel bisweilen vor wie Robinson Crusoe – so einsam ist‘s in vielen Zügen der S1 und S8.
Auch René Jacobsen nimmt stets die S-Bahn zum Flughafen und dort die Rolltreppe hinauf ins Zentralgebäude, wo sein Blick zurzeit auf geschlossene Läden fällt, auf dunkle Cafés, auf verlassene Schalter und auf einsame Gestalten, die in den weitläufigen Gängen nur noch verlorener wirken. „Ich finde den Anblick krass, da habe ich mich immer noch nicht dran gewöhnt“, sagt der 33-Jährige. Was ihm aber vor allem fehle, sei die „tolle Stimmung“, die in Vor-Corona-Zeiten am Flughafen geherrscht habe. „Die Leute, die voller Vorfreude auf ihren Abflug warten oder gerade heimgekommen sind. Das ist schon ein ganz besonderes Flair.“
Nicht wenigen von diesen Menschen hat René Jacobsen ein Willkommens-Weißbier oder ein Lebwohl-Lager zubereitet. Denn der Hüne mit der Wuschelfrisur und dem Zwei-Wochen-Bart ist seit sieben Jahren Braumeister im Airbräu – der weltweit einzigen Flughafen-Brauerei, deren Wirtshaus so etwas wie das heimliche Herz des MUC ist. Hier in der Gaststube wurde vor der Corona-Krise von früh bis spät gelärmt, gelacht, gegessen und vor allem auch getrunken – die Halbe Fliegerquell Helles oder Kumulus Weißbier für 2,95 Euro, was in München fast einem Dumpingpreis gleichkommt.
„Oft saßen die Leute schon morgens um halb acht bei uns zum Weißwurstfrühstück“, sagt René Jacobsen. Inzwischen jedoch hat das Airbräu seine Gaststube zusperren müssen, so wie alle Restaurants landauf, landab. Immerhin: Diesmal war der Braumeister nicht gezwungen, zig Liter Bier in den Abguss zu kippen, wie er es noch beim ersten Lockdown im März habe tun müssen, erzählt René Jacobsen mit düstrer Miene, ehe er sich ein Lächeln abringt. „Und das, obwohl wir bei internen Meetings unser Bestes gegeben haben.“
Galgenhumor nennt man das wohl – in Zeiten, in denen es am Flughafen vielerorts so wirkt, als habe jemand auf die Pause-Taste gedrückt. „Wir sind im Airbräu natürlich stark von den Fluggastzahlen
abhängig“, sagt Klaus Dörfler. Der 45-Jährige ist der Wirt der Brauerei-Gaststätte und verfügt sowohl über die für seinen Beruf angemessene Statur als auch über die Blitzgescheitheit, die sich viele seiner Zunft in stundenlangen Tresengesprächen erworben haben. Die Corona-Krise, sagt Klaus Dörfler,
habe den Flughafen „von einer Stadt in ein Dorf geschrumpft“. Und infolge des Lockdowns sei man nun „kurz davor, zum Einsiedlerhof zu werden“. Der Airbräu-Wirt berichtet von Gästezahlen, die schon vor der Zwangsschließung um 80 Prozent abgesackt sind. Inzwischen sind es nur mehr vereinzelte Besucher,
die eine Currywurst mit Pommes, eine Gulaschsuppe oder das hauseigene Bier „to go“mitnehmen. Ansonsten aber wirkt die einst so quicklebendige Gaststube samt des weitläufigen Biergartens wie ausgestorben.
Im Airbräu spiegelt sich damit – verdichtet wie in einem Brühwürfel
– die Situation des gesamten Flughafens wider. Von Januar bis September starteten und landeten hier 61 Prozent weniger Flugzeuge als 2019. Statt täglich 120 000 Passagieren sind derzeit 20 000 am Airport unterwegs – höchstens. Und für 2020 rechnet die Flughafengesellschaft FMG mit zwölf Millionen Fluggästen, was gerade mal ein Viertel des Vorjahreswerts wäre – und genauso viele wie im ersten Jahr nach der Eröffnung am 17. Mai 1992.
An jenem Tag ist es Königin Silvia von Schweden, die den feierlichen Startschuss für den Flughafen gibt – zwölf Jahre nach dem Baustart, was auf den ersten Blick an Berliner Verhältnisse erinnert. Doch anders als beim BER bremsen den MUC nicht etwa Baumängel, Planungsfehler und Korruption aus, sondern der Bayerische Verwaltungsgerichtshof. Er gibt nur wenige Monate nach dem Baubeginn im November 1980 einer Klage von Flughafen-Gegnern statt und verhängt einen Baustopp – unter anderem, weil die Richter das Vorhaben als überdimensioniert erachten.
In der Folge speckt die FMG ihre Pläne ab und verzichtet auch auf eine dritte Start- und Landebahn, die dreißig Jahre später zum Zankapfel in der Region werden wird. Nach weiteren Gerichtsurteilen rollen die Bagger Mitte 1985 abermals an, und sieben Jahre später ist es dann so weit: Am Abend des 16. Mai 1992 beginnt der Umzug vom Flughafen Riem im Stadtgebiet hinaus ins Erdinger Moos, fast 40 Kilometer nordöstlich des Marienplatzes. In den folgenden 16 Stunden verfrachten 5000 Helfer und 700 Lastwagen das Inventar des Airports an seinen neuen Standort. Dort hebt um 5.59 Uhr die erste Maschine mit 218 Ehrengästen zu einem Rundflug über die Alpen ab – der Flughafen München „Franz Josef Strauß“, kurz MUC, ist nunmehr in Betrieb.
In seiner Anfangszeit jedoch hat der Neuling zu kämpfen. So sieht es zunächst danach aus, als sollten die Kritiker recht behalten, die den Flughafen von vornherein als maßlos überdimensioniert gegeißelt hatten. Zu schaffen macht dem MUC vor allem die schwere Krise der noch teilstaatlichen Lufthansa. „Nichts los im Moos“, titelt damals eine Boulevardzeitung. Doch ab Mitte der 1990er-Jahre erlebt die Luftfahrtbranche einen Boom; überdies entscheidet die nun wieder prosperierende Lufthansa, München zu ihrem zweiten Drehkreuz neben Frankfurt auszubauen. Die Folge: Der MUC setzt zu einem ungeahnten Höhenflug an und meldet Jahr für Jahr neue Passagierrekorde, während die FMG einen Ausbau nach dem anderen plant.
Im Jahr 1999 eröffnet das von Stararchitekt Helmut Jahn entworfene Munich Airport Center mit Geschäften, Büros, Restaurants und einem Konferenzzentrum; 2003 geht das zweite Terminal in Betrieb, gemeinsam gebaut von Lufthansa und FMG; 2005 erhält der Münchner Airport seine erste von inzwischen 13 Auszeichnungen als bester Flughafen Europas; und 2016 wird das Terminal 2 um ein Satellitengebäude samt flughafeneigener U-Bahn erweitert, nachdem man zuvor schon wieder an die Kapazitätsgrenzen gestoßen ist. Zwar platzen 2008 die Pläne für den von Edmund Stoiber herbeigesehnten und in einer legendären StammelRede verewigten Transrapid zum Flughafen; und auch gegen eine dritte Startbahn wehren sich die Bürger erfolgreich. Doch abgesehen davon schreibt der Flughafen München eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte – bis diese im März 2020 durch den Ausbruch der CoronaPandemie ein jähes Ende findet.
Einer, der diese Entwicklung von Beginn an miterlebt hat, ist Walter Maria Verfürth. Er hat 1992 seine erste Apotheke im Flughafen eröffnet, inzwischen sind es vier. Und anders als so viele Läden im Zentralbereich ist seine Metropolitan Pharmacy aktuell noch geöffnet, wenngleich der Kundenandrang dort – vorsichtig ausgedrückt – überschaubar bleibt. Und dennoch will Walter Maria Verfürth nicht jammern, würde das doch ohnehin seinem Naturell widerstreben.
Der 63-Jährige, der ungleich jünger wirkt, gehört ganz offensichtlich nicht zur Sorte Apotheker, die am liebsten im stillen Kämmerlein Salben anrühren. Viel eher spricht er von der Marke, die man als Apotheke aufbauen müsse, von „unique selling propositions“und vom „response“, den es jetzt in der Corona-Krise brauche. Zwar habe auch er wegen der Einschnitte am Flughafen sein Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern deutlich herunterfahren müssen. Und ja, „es fehlen die Russen, Chinesen und zum Teil auch die Araber“, sagt Verfürth – also diejenigen, die nicht bloß ein Päckchen Aspirin vor dem Flug kaufen, sondern Pillen und Pulver für ein paar hundert Euro. Und doch gibt sich der Apotheker, was die mittelfristige Zukunft angeht, betont zuversichtlich – so wie es zuvor im Airbräu auch René Jacobsen und Klaus Dörfler getan haben. „Corona geht irgendwann vorüber“, sagt Walter Maria Verfürth. „Und dann wird auch der Flughafen zu alter Stärke zurückfinden.“
Wann es so weit sein könnte? Bei der Flughafengesellschaft FMG, die Freistaat, Bund und Landeshauptstadt gehört, rechne man 2024 mit einer Rückkehr zu den Vor-Corona-Zahlen, sagt Sprecher Ingo Anspach. Eine Prognose, die freilich höchst ungewiss ist. Zumal sich die jüngsten Zahlen beängstigend lesen. So ist die Lufthansa als größter Arbeitgeber am Münchner Flughafen infolge der Krise wieder teilverstaatlicht worden und hat einen drastischen Sparkurs angekündigt. Ebenfalls einen Stellenabbau plant die FMG, bei der aktuell 7000 von 10 000 Beschäftigten in Kurzarbeit sind. Einem Bericht des „Münchner Merkur“zufolge hat der Flughafen bei seinem Abfertigungspersonal sogar für eine Umschulung geworben – zum UBahn-Fahrer. Dies sei in nur 14 Wochen möglich, hieß es in der Offerte, die den Mitarbeitern weitergeleitet wurde. Und: „Quereinsteiger/innen sind herzlich willkommen!“
„Oft saßen die Leute schon morgens um halb acht bei uns zum Weißwurstfrühstück.“
René Jacobsen, Braumeister im Airbräu über die Vor-Corona-Zeit