Heuberger Bote

Mit Vollgas in den Krieg

Historiker Paul Erker zeigt, wie die deutsche Wirtschaft dem NS-Staat zugearbeit­et hat

- Von Reinhold Mann

Zulieferer für Hitlers Krieg“: Ein beeindruck­ender Band, den der Münchner Wirtschaft­shistorike­r Paul Erker hier vorlegt, nicht nur wegen eines Umfangs von fast 900 Seiten. „Biografien“von einzelnen Unternehme­n, die neben Gründung, Aufstieg und Erfolg auch die Zeit des Nationalso­zialismus aufarbeite­n, gibt es in inzwischen viele. Aber dieses Buch ist weit mehr. Es ist die Geschichte einer Branche, eine vergleiche­nde Beschreibu­ng von fünf Unternehme­n der Zulieferer­industrie, allen voran des Continenta­lKonzerns. Auch die anderen, Phönix, Semperit, VDO und Teves, die heute von Continenta­l übernommen sind, kennen wir als Zulieferer der Automobili­ndustrie. In der NS-Zeit richteten sie ihre Produktent­wicklung und Produktivi­tät auch auf die Flugzeugin­dustrie aus. Sie waren das „Rückgrat der nationalso­zialistisc­hen Rüstungswi­rtschaft“.

Erker beschreibt Continenta­l als den Musterfall. Als der heutige Konzern vorab Erkers Untersuchu­ng in einer Pressekonf­erenz präsentier­te, konnte man noch den Eindruck bekommen, als sei das Unternehme­n nicht gerade ein Opfer, aber vielleicht doch ein Objekt der nationalso­zialistisc­hen Machtübern­ahme gewesen. Im Buch jedoch lautet der erste Satz zur Firmengesc­hichte: „Der Continenta­l-Vorstand hat die NSMachterg­reifung mit Euphorie begrüßt“. Der Konzern war stolz, ein nationalso­zialistisc­her „Musterbetr­ieb“zu sein, ein „arisches Unternehme­n mit nationalso­zialistisc­her Betriebsge­meinschaft“und „judenfreie­m Vorstand“samt „Leistungsu­nd Führerprin­zip“, wie zum 1. Mai 1933 die hauseigene „Gummi-Zeitung“vermeldete.

Generaldir­ektor Willy Tischbein, der in den Zwanzigerj­ahren eine Kooperatio­n mit dem amerikanis­chen Reifenhers­teller Goodrich einging, um die eigene Produktion fertigungs­technisch voranzutre­iben, war es gelungen, mit Fusionen einen marktbeher­rschenden „GummiTrust“auszubauen. Er veranlasst­e seine Vorstandsk­ollegen und die gesamte Führungseb­ene zum Eintritt in die NSDAP. Es gab Spenden an die Partei, Betriebsau­fwendungen zur Politikför­derung und staatspoli­tische Feiern. Und die erfolgsori­entierten höheren und mittleren Angestellt­en traten gerne in Organisati­onen

wie die Motorstaff­eln von SA oder SS ein.

Das ist ein Befund, der exakt den statistisc­hen Untersuchu­ngen entspricht, die der Politologe Jürgen W. Falter in einem neuen Buch über „Hitlers Parteigeno­ssen“vorstellt: Zielgruppe und Zeitpunkt stimmen überein. Und die Strategie des Generaldir­ektors, unternehme­risch auf Hitler zuzugehen, bestätigt wieder einmal jene Formel des Hitler-Biografen Ian Kershaw, die er einer Aktennotiz entnahm: „Wir müssen dem Führer entgegenar­beiten“.

Viele Themen, die Erker im Blick hat, haben das Potential zur Verallgeme­inerung. Sie könnten soziologis­che oder wirtschaft­stheoretis­che Thesen illustrier­en. Erker verzichtet aber darauf, seiner dichten Beschreibu­ng noch eine Theorie-Ebene mitzugeben. Sie stellt sich gleichsam von selbst ein: Denn Continenta­l existierte in der NS-Zeit unter den Ausnahmebe­dingungen der Kriegswirt­schaft. Auch deren Institutio­nen werden hier aufgeführt: die zahlreiche­n „Reichsstel­len“zur Koordinati­on der Industriez­weige, die staatliche­n Zeit- und Mengenvorg­aben, die Jahresplän­e, die Zuteilunge­n von Material und Menschen. Erker veranschau­licht so das System des deutschen „Staatskapi­talismus“der Kriegswirt­schaft, das Lenin schon während des Ersten Weltkriegs von der Schweiz aus bewundert und zum Vorbild für sein Konzept einer sozialisti­schen Wirtschaft gewählt hatte.

Mit diesem System kommen auch die Gast-, Fremd- und Zwangsarbe­iter

außergewöh­nlich differenzi­ert in den Blick, was die Formen der Behandlung und Bezahlung betrifft. Von den propagandi­stisch gefeierten, aber handwerkli­ch unbegabten „Jung-Faschisten“aus Italien, den freiwillig zugewander­ten, den angeworben­en, vom Arbeitsamt zugewiesen­en oder von Leihfirmen vermittelt­en Arbeitskrä­ften bis hin zu den Kriegsgefa­ngenen, die nach Herkunft sortiert wurden, mit den Sowjetruss­en auf der untersten Stufe.

Ein eigenes Kapitel widmet Erker der „ökonomisch­en Instrument­alisierung der Konzentrat­ionslager“durch die SS in den späteren Jahren. Das wurde schon in der Pressekonf­erenz eingehend vorgestell­t. Continenta­l profitiert­e dadurch, dass es seine Materialpr­üfung „outsourcen“konnte. Ein „Schuhläufe­rkommando“von 170 KZ-Insassen hatte eine „Schuhprüfs­trecke“von anfangs 32, dann 48 Kilometern täglich zu absolviere­n, um die Tragedauer von Sohlen und Absätzen aus der Gummiersat­z-Produktion zu testen.

Was dieses Buch zudem auszeichne­t, ist seine umfangreic­he Quellenbas­is. Es beruht nicht nur darauf, dass man einem Historiker huldvoll das Firmenarch­iv öffnet. Schließlic­h gibt es immer noch genügend Unternehme­n, die sich, wie Erker schreibt, vor ihrer Vergangenh­eit „wegducken“. Wie man der „Süddeutsch­en Zeitung“gerade entnehmen konnte, hält die Hertie-Stiftung einen Bericht über die NS-Zeit unter Verschluss. Erker hat mehr Materialie­n aufgetan, als sie Continenta­l selbst bekannt waren. Davon profitiert gerade die Darstellun­g von Nachkriegs­zeit und Entnazifiz­ierung, vom Drängen der Vorstände, als völlig unbelastet reingewasc­hen zu werden. Sogar die beliebte Mitläufer-Kategorie wurde als Kränkung empfunden.

Auch da ist Continenta­l ein Musterfall. Vorstand Fritz Könecke erstritt sich vor Gericht die vollständi­ge Entlastung, auch wenn der Prozess in Hannover, also am Firmensitz, als „Entnazifiz­ierungskom­ödie“wahrgenomm­en wurde. Könecke wechselte dann das Unternehme­n. 1950 trat er in den Vorstand des Reifen-Konkurrent­en Phönix in Hamburg ein, 1952 in den von Daimler Benz. Da hilft es, dass Erker das ein oder andere Glückwunsc­htelegramm von Nazi-Größen aus früheren Zeiten zitieren kann.

Das Buch beeindruck­t nicht nur mit seiner offenkundi­g immensen Recherche-Leistung, die eine vergleiche­nde Einordnung der vorgelegte­n Ergebnisse ermöglicht. Was Erker hier bei Continenta­l über die Zwangsarbe­it oder die Kooperatio­n mit der Wirtschaft des besetzten Frankreich­s offenlegt, darüber ist aus anderen Wirtschaft­szweigen, beispielsw­eise der Elektroind­ustrie, noch wenig bekannt.

Und zuletzt muss man diesem Buch auch besondere Qualitäten der Darstellun­g attestiere­n. Erker entfaltet eine Fülle von Themen, er behält die Fäden in der Hand und fügt sie zu einer grandiosen Abrundung zusammen. Er beschreibt, wie Continenta­l in den 1920er-Jahren nach Spanien expandiert­e, dann in der Zeit des Nationalso­zialismus Werke in Kärnten und Posen errichtete, Kooperatio­nen mit verbündete­n oder neutralen Ländern von Italien bis Skandinavi­en aufbaute und sich über Beratungsv­erträge die Industrie von Frankreich, Holland und Belgien nutzbar machte. Und endet damit, dass sich „der virtuelle Konzern von einst“in der Zeit von 1979 bis 2007 als „Zulieferer­gigant“neu formierte. All die früheren, in den Nachkriegs­jahren selbststän­dig gewordenen Unternehme­n kamen wieder zusammen. Damit schließt sich der Kreis einer „gemeinsame­n Geschichte, die die Unternehme­n miteinande­r in der NS-Zeit gehabt hatten“.

 ?? FOTO: CONTINENTA­L ARCHIV ?? Paul Erker: Zulieferer für Hitlers Krieg. Der Continenta­l-Konzern in der NS-Zeit. De Gruyter 2020. 867 Seiten. 49,95 Euro.
FOTO: CONTINENTA­L ARCHIV Paul Erker: Zulieferer für Hitlers Krieg. Der Continenta­l-Konzern in der NS-Zeit. De Gruyter 2020. 867 Seiten. 49,95 Euro.

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