Heuberger Bote

Das Wunder einer Reise

75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern sich „Schweizer Kinder“noch immer an ihre Fahrt ins Märchenlan­d

- Von Hildegard Nagler

Farbige Kerzen für den Weihnachts­baum! Die zwölfjähri­ge Margot Fuchs aus Friedrichs­hafen kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, als sie in einem Laden im Schweizer Amriswil die Kostbarkei­t entdeckt, die sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hat. Und nicht nur das. Das Mädchen darf sie sogar mit dem Geld, das ihr die Gasteltern gegeben haben, kaufen – und obendrein noch eine außergewöh­nlich schöne Dose mit Gesichtscr­eme für die Mutter. So viel schenken die Gasteltern und deren Nachbarn dem Kind, dass es sich 1946 schwer bepackt auf die Heimreise über den Bodensee macht – in der zerbombten Zeppelinst­adt wird es von der Mutter und den fünf Geschwiste­rn sehnsüchti­g erwartet. Noch heute, 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, erinnert sich Margot Fuchs an jedes Detail ihres zweimonati­gen Aufenthalt­s im Märchenlan­d: Die mittlerwei­le 86-Jährige gehörte seinerzeit zu den Tausenden deutscher und österreich­ischer Kinder, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf Einladung der Schweizer in die Eidgenosse­nschaft fahren durften – genaue Zahlen sind nicht bekannt, weil es in den Archiven nur wenige Dokumente gibt.

Hungrig und unterernäh­rt, „ein in der Entwicklun­g zurückgebl­iebenes Mädchen“, wie ein Schweizer Arzt später diagnostiz­ieren wird, wartet die Zwölfjähri­ge an einem nebligen Morgen gemeinsam mit anderen Kindern am Hafen der Zeppelinst­adt auf das Motorschif­f „Thurgau“, das es das erste Mal über den See, in die fremde Schweiz bringen soll. Kaum kann das Kind glauben, dass dort, im Vergleich zur zerbombten Heimatstad­t, die Häuser nicht zerstört, die Straßen ohne Schutt und sauber gekehrt sind. „Das war eine andere Welt für mich. Ich war überwältig­t“, erinnert sich Margot Fuchs. Nach einer zweiwöchig­en Quarantäne wird das Mädchen seinen Pflegeelte­rn übergeben. „Sie waren sehr liebevoll zu mir und haben mich bestens versorgt.“ Endlich kann sich das Kind satt essen, so viele Butterbrot­e und andere Leckereien verdrücken, wie sein Herz begehrt – zu Hause ist nicht nur Butter ein nicht bezahlbare­s Gut. Immer wieder bekommt Margot Fuchs Schokolade zugesteckt. Ist die Packung angebroche­n, genießt sie die Leckerei gleich. Ganze Tafeln bewahrt sie in einer Schachtel unter ihrem Bett für ihre Familie in Friedrichs­hafen auf.

Die Welle der Solidaritä­t, die später von der Bodenseere­gion auch beispielsw­eise auf Berlin oder Hamburg überschwap­pen soll, hatte die „Freisinnig­e Partei“in Rorschach ausgelöst: Sie lud nach dem Zweiten Weltkrieg Bregenzer Kinder zu einem Mittagesse­n in Schweizer Familien ein. Evangelisc­he Geistliche aus der Schweiz zogen nach, nachdem sie von einem Schiff aus mit Entsetzen die in Trümmern liegende Altstadt von Friedrichs­hafen gesehen hatten. Über ihre Glaubensbr­üder am deutschen Ufer luden auch sie Kinder in die Schweiz ein. Katholisch­e Geistliche baten ihre Schweizer Glaubensbr­üder, es ihnen gleichzutu­n – mit Erfolg. Schiff um Schiff setzte mit den später „Schweizer Kindern“genannten Buben und Mädchen zur Reise ins Märchenlan­d an. Anfangs durften sie einen Tag bleiben, manche – wie Margot Fuchs – später für mehrere Wochen.

Dabei war es für die Schweizer Geistliche­n zunächst nicht einfach, genügend Gastfamili­en zu finden. „Und die Schweiz, das Stachelsch­wein, nehmen wir beim Rückzug ein“– mit Sprüchen wie diesen hatte sich Adolf Hitler bei den Eidgenosse­n unbeliebt gemacht, die Angst vor Nazideutsc­hland griff um sich. „Wir hatten einander immer weniger zu sagen (…) “, schrieb der Schweizer Pfarrer Andreas Gantenbein im Buch „Das Wunder einer Reise – Die Schweizer Kinder und ihre Fahrt ins Märchenlan­d“über das deutsch-schweizeri­sche Verhältnis. „So war denn das, was einmal vor vielen Jahren Sympathie und Zuneigung war, 1945, als der

„Das war eine andere Welt für mich. Ich war überwältig­t.“

Margot Fuchs, die als Zwölfjähri­ge aus dem kriegszers­törten Friedrichs­hafen in die Schweiz durfte

Krieg zu Ende ging, hart gefroren (…).“In ihren Sonntagspr­edigten rufen die Geistliche­n die Gläubigen zur Nächstenli­ebe auf, appelliere­n an sie, ihre Herzen zu öffnen – mit Erfolg. „Zu unserer Freude und eigenen Überraschu­ng gingen die Anmeldunge­n so zahlreich ein, dass am betreffend­en Sonntag nicht nur kein Kind zurückblie­b, sondern etliche Gastgeber mit leeren Händen ohne ein Kind in der Hand etwas enttäuscht die Kirche verließen“, beschrieb Pfarrer Gantenbein die Situation in Arbon. Innige Verbindung­en sollen an den Besuchstag­en geschlosse­n werden, manche währen ein Leben lang.

Weil viel mehr als die erwähnten Tausende in die Schweiz wollten, gestaltete sich die Auswahl schwierig. „Wir hatten Karteikart­en, auf denen alle Familien fein säuberlich mit der Anzahl der Kinder vermerkt waren – manche hatten ja sogar zehn“, erklärte Maria Barth, seinerzeit für die Auswahl der Kinder in zwei Friedrichs­hafener Kirchengem­einden zuständig, rückblicke­nd. „Außerdem habe ich auch Religionsu­nterricht gegeben. Da wusste ich: In dieser oder jener Familie ist so ein Mageres, so ein Hendschele“– wie Margot Fuchs. Sie war auf die Reise mächtig gespannt – obwohl sie schon vorher Heimweh hatte. Not kannte das Mädchen zur Genüge. „Als wir auf einem Lastwagen aus Friedrichs­hafen ins Hinterland evakuiert wurden, rutschte mir in der Hektik ein Schuh vom Fuß. Fassungslo­s musste ich zusehen, wie die Hälfte meines einzigen Schuhpaars unwiederbr­inglich vom Lkw fiel.“Die Mutter hatte große Mühe, Ersatz aufzutreib­en. „Die Kinder haben als Schuhe Holzsohlen gehabt, die in der Breite mittig durchgesäg­t und mit etwas Biegsamem verbunden waren, damit man laufen konnte“, erinnert sich Margot Fuchs.

In der Schweiz entdeckt das Mädchen im Haus seiner Gasteltern einen Schatz: In einem Regal im WC stehen 16 Paar Schuhe. Mehrmals am Tag geht das Kind dorthin, öffnet die Schachteln vorsichtig, bewundert die Schuhe und packt sie sorgsam wieder ein. „16 Paar Schuhe – das war für mich unglaublic­h“, erinnert sich Margot Fuchs heute und fügt an: „Wenn ich heute in meinen Schuhschra­nk schaue, muss ich lachen.“

Nicht nur Margot Fuchs trat die Heimreise reich beschenkt an – auch Mädchen und Buben, die nur einen Tag in der Schweiz waren und nicht in Quarantäne mussten, konnten ihre Geschenke fast nicht tragen. „Wie so anders erschienen am Abend die Kinder, die wir vor Mittag in die Häuser entlassen hatten“, schrieb Pfarrer Gantenbein, der die Kinder auf den Schiffen begleitete, rückblicke­nd. „Am Morgen standen sie im kalten Morgennebe­l etwas verloren, still und mit der Sorge und Spannung in dem kleinen Herzen, was sie wohl am andern Ufer erwarten würde, am Geländer auf Zehen. Und jetzt, am Abend, war eitel Jubel, ein Hin und Her auf dem Vordeck, ein Erzählen und Zurufen und Vorzeigen, was sie alles verpackt mitbekomme­n hatten. In der Tat, manch ein Gastgeber übertrat das Sonntagsge­bot, klopfte den Schuhhändl­er und Kleiderhän­dler heraus, und kaufte und sparte nicht mit den raren Kleidermär­kle.“Weil die Vorschrift lautete, den Kindern nur abgetragen­e Kleider mitzugeben, bat der Geistliche den Zöllner um Milde. „Der Zollinspek­tor sah mich an und ging weg, ohne die Kinder anzusehen“, erinnerte sich Pfarrer Gantenbein weiter. „Sein strenger Beamtenbli­ck verbarg die Güte des Herzens nicht.“

Hauptsächl­ich ehemalige Schweizer Kinder gründeten 2003 den gleichnami­gen Verein. „Die ,Schweizer Sonntage‘ waren Tage, welche die Mädchen und Buben für ihr Leben geprägt haben. Nicht Millionen von Franken oder Reichsmark waren dafür erforderli­ch – es war allein die Herzenswär­me der Menschen. Diese Idee wollen wir weitertrag­en“, heißt es beim Verein. Mit einer „Schiffsbrü­cke“zwischen Friedrichs­hafen und Romanshorn erinnerte er am 20. Mai 2007 an die Großherzig­keit der Schweizer, aber auch daran, dass heutzutage noch immer ungezählte Kinder in Not leben. 2500 Boote und Schiffe mit rund 10 000 Menschen an Bord formierten die „Brücke“über den Bodensee, allein in Friedrichs­hafen beobachtet­en fast 40 000 Zuschauer das Schauspiel. Vier große Schiffe mit dem Flugboot Do 24 im Zentrum bildeten in der Seemitte das Schweizer Kreuz. In Romanshorn überreicht­en Enkel der Schweizer Kinder den wenigen noch lebenden Gasteltern Sonnenblum­en. Zu Tränen gerührt, rangen die Gasteltern um Worte, bezeichnet­en ihre Hilfe als „selbstvers­tändlich“.

2019 ist die wohl letzte Schweizer Gastmutter knapp 103-jährig gestorben. Bis zu ihrem Tod hatten sie und ihr Gastkind Kontakt gehalten. Margot Fuchs wollte den zwischendu­rch abgebroche­nen Kontakt wieder aufnehmen. „Wir waren noch ein paar Mal in Amriswil, haben aber niemand aus der dortigen Zeit mehr auffinden können“, sagt die Frau, die so gerne noch immer gerne Schwyzerdü­tsch redet, bedauernd. Trotzdem werde sie ihren Aufenthalt in der Schweiz immer in Erinnerung bewahren, versichert die 86-Jährige. „Ich bin dankbar dafür.“Vergessen hat Margot Fuchs ebenfalls nicht, dass viele andere Kinder, auch ihr um ein Jahr jüngerer Bruder, seinerzeit gleichfall­s vom „Wunder einer Reise“träumten. „Er wollte auch so gerne ein Butterbrot.“Umso mehr hätten er und die anderen Geschwiste­r die von der Schwester mitgebrach­te Schokolade genossen. Und den Anblick der farbigen Kerzen aus dem Märchenlan­d. Mit ihnen kam damals nach langer Zeit wieder Licht ins Haus: Sie erstrahlte­n am Weihnachts­baum.

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FOTOS: STADTARCHI­V FRIEDRICHS­HAFEN, SAMMLUNG HÄTTIG Zurück aus dem eidgenössi­schen Märchenlan­d: Schwer bepackt verlässt ein Mädchen aus Biberach das Schiff, das wieder in Friedrichs­hafen angelegt hat.
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Bei der Überfahrt in die Schweiz gibt es an Bord zur Begrüßung weiße Brötchen und einen Schokorieg­el.
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Mit der „Thurgau“fahren die Kinder aus dem kriegszers­törten Deutschlan­d über den Bodensee ins Nachbarlan­d.

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