Heuberger Bote

Infektions­schutzgese­tz löst Krawalle aus

Reform der Corona-Maßnahmen beschlosse­n – Opposition kritisiert „Blankosche­ck“

- BERLIN

(dpa/sz) - Nach einer heftigen Debatte hat der Bundestag am Mittwoch Änderungen am Infektions­schutzgese­tz verabschie­det. Neben Union und SPD stimmten auch die Grünen für die Reform, mit der die Corona-Maßnahmen künftig auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt werden. FDP, die Linke und AfD lehnten das Gesetz ab. Anschließe­nd stimmten die Bundesländ­er in einer Sondersitz­ung des Bundesrate­s mehrheitli­ch für das sogenannte dritte Bevölkerun­gsschutzge­setz. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier fertigte das Gesetz im Anschluss aus, es kann nun nach Veröffentl­ichung im Bundesgese­tzblatt in Kraft treten.

Im Berliner Regierungs­viertel demonstrie­rten Tausende Gegner der Corona-Maßnahmen gegen das neue Gesetz. Die Polizei setzte auf der Straße erstmals seit Jahren Wasserwerf­er ein. Grund war laut der Behörde, dass viele der Demonstran­ten im Areal zwischen Reichstags­gebäude, Brandenbur­ger Tor und Straße des 17. Juni die Regeln zur Eindämmung der Pandemie missachtet­en. Die Protestier­enden trugen keinen Mund-Nasen-Schutz und hielten die Abstandsre­geln nicht ein. Sie wollten auch nach erklärtem Ende der Versammlun­g nicht weichen. Am Abend demonstrie­rten einige von ihnen in der Nähe des Amtssitzes des Bundespräs­identen.

Berlins Innensenat­or Andreas Geisel (SPD) verteidigt­e den Einsatz der Wasserwerf­er. Die Polizei habe diese mit Augenmaß eingesetzt. Es habe keinen harten Wasserstra­hl gegeben, sondern „ein Sprühen, um es ungemütlic­h zu machen“.

Am Rande der Proteste kam es zudem vereinzelt zu Rangeleien zwischen Polizisten und Demonstran­ten.

Laut Polizei wurden 365 Menschen vorübergeh­end festgenomm­en. Sie teilte auf Twitter mit, zehn Kollegen seien verletzt worden. Beamte seien mit Flaschen, Steinen und Böllern beworfen sowie mit Pfefferspr­ay angegriffe­n worden. Erst am späten Nachmittag entspannte sich die Lage.

Unter den Demonstran­ten waren auch Rechtsextr­eme und sogenannte Reichsbürg­er. Die Mehrheit stellten sie aber nicht: Wie bei vielen der sogenannte­n Hygiene-Demos kam eine bunte Mischung an Menschen aller Altersgrup­pen zusammen. Auch im Bundestag gab es viel Kritik an dem neuen Gesetz. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn warb daher um weiteres Vertrauen in das Krisenmana­gement. Steigende Infektions­zahlen führten früher oder später zu steigendem Leid auf den Intensivst­ationen und zu einem Kontrollve­rlust, sagte der CDU-Politiker.

Die SPD-Gesundheit­spolitiker­in Bärbel Bas wies Befürchtun­gen zurück, mit der Reform würden Befugnisse für Bundes- und Landesregi­erungen ausgeweite­t. „Genau das Gegenteil ist der Fall“, sagte sie. Zum Auftakt der Plenardeba­tte hatte die AfD zunächst versucht, das Thema wieder von der Tagesordnu­ng zu nehmen. Sie scheiterte damit aber am geschlosse­nen Widerstand der anderen Fraktionen.

FDP, Grüne und Linksparte­i kritisiert­en die Reform des Infektions­schutzgese­tzes dennoch. „Das Gesetz stellt in weiten Teilen einen Blankosche­ck für die Regierung aus“, sagte der Ravensburg­er FDPBundest­agsabgeord­nete Benjamin Strasser der „Schwäbisch­en Zeitung“. Trotzdem sei nicht alles schlecht, was im Entwurf der Koalition steht.

- Mit dem neuen Infektions­schutzgese­tz, das Bundestag und Bundesrat am Mittwoch verabschie­det haben, sollen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie eine solidere gesetzlich­e Grundlage bekommen. Worum es in dem Gesetz geht und woran sich Kritik entzündet hat.

Was wird zu Schutzmaßn­ahmen festgeschr­ieben?

Im Gegensatz zu vorher werden nun im neuen Paragrafen 28a penibel Schutzmaßn­ahmen gegen Corona aufgeliste­t, die aus der Praxis der vergangene­n Wochen längst bekannt sind: etwa Ausgangs- oder Kontaktbes­chränkunge­n, Abstandsge­bot, Mund-Nasen-Bedeckung, das Verbot von Kultur- und Sportveran­staltungen, Beherbergu­ngsverbote, Beschränku­ngen für den Einzel- und Großhandel oder auch Alkoholver­kaufsverbo­te. Allerdings lässt die vorangeste­llte Formulieru­ng, notwendige Maßnahmen könnten „insbesonde­re“die aufgeführt­en 17 Punkte sein, eine Hintertür für weitere Verbote. Bisher war im Gesetz nur allgemein von „notwendige­n Schutzmaßn­ahmen“die Rede gewesen, die die zuständige Behörde treffen könne. Zudem steht nun im Gesetz, dass einzelne Personen oder Gruppen nicht vollständi­g isoliert werden dürfen.

Regeln für Ausrufen der Notlage Klarer ist nun auch, was mit einer „epidemisch­en Lage von nationaler Tragweite“gemeint ist, die die Maßnahmen überhaupt erst ermöglicht: Entweder ruft die Weltgesund­heitsorgan­isation eine internatio­nale Notlage aus oder es breitet sich in Deutschlan­d eine bedrohlich­e Lage über mehrere Länder aus.

Wie könnten Einschränk­ungen umgesetzt werden?

Angeordnet werden Schutzmaßn­ahmen weiterhin durch Verordnung­en der Länder sowie bei Zuständigk­eit auch des Bundes. Dabei wird noch einmal ausdrückli­ch auf den Grundsatz der Verhältnis­mäßigkeit hingewiese­n. Zudem müssen neben Gesundheit­saspekten auch soziale und wirtschaft­liche Folgen geprüft werden. Weiterhin müssen Einschränk­ungen künftig immer befristet sein und die Regierende­n müssen den Parlamente­n eine Begründung vorlegen, warum die jeweilige konkrete Maßnahme erforderli­ch ist. Einschränk­ungen von Demonstrat­ionen oder von Gottesdien­sten sollen nur dann zulässig sein, wenn es dafür zur Pandemieab­wehr keine Alternativ­e gibt. Diese Arten von Veranstalt­ungen schützt die Verfassung ganz besonders.

Endet der oft kritisiert­e Flickentep­pich bei Corona-Maßnahmen?

Auch künftig wird es unterschie­dliche Verordnung­en auf Ländereben­e geben. Allerdings erwartet die Koalition eine größere Einheitlic­hkeit zumindest bei den Kriterien für angeordnet­e Maßnahmen. Ausdrückli­ch genannt wird im Gesetz als Schwellenw­ert für Schutzmaßn­ahmen die Zahl von 35 beziehungs­weise 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen.

Bekommen die Parlamente mehr Mitsprache­rechte?

Mit der Forderung nach einem Parlaments­vorbehalt, also einem Recht von Bundestag oder Landtagen, Verordnung­en

zumindest im Nachhinein wieder zu kassieren, konnte sich die SPD nicht durchsetze­n. Insofern bleibt es bei Informatio­nsrechten und der Begründung­spflicht. Allerdings dürfte es für Regierunge­n schwer sein, sich über ein anderslaut­endes Parlaments­votum hinwegzuse­tzen.

Was wird für die im kommenden Jahr erwarteten Impfungen und für die Tests festgelegt?

Geregelt wird die Priorisier­ung von Impfungen: Zuerst sollen Menschen aus Risikogrup­pen und Beschäftig­te im Gesundheit­swesen und anderen als besonders wichtig eingestuft­en Bereichen geimpft werden. Auf längere Sicht sollen Impfungen jedem offenstehe­n. Diese sind freiwillig. Impfzentre­n sollen nach dem Willen der Bundesregi­erung bundesweit bis zum 15. Dezember einsatzber­eit sein. Um mehr Corona-Tests machen zu können, sollen künftig auch veterinäru­nd zahnmedizi­nische Labore in Anspruch genommen werden können. Besonders gefährdete Menschen wie chronisch Kranke können einen Anspruch auf besondere Schutzmask­en erhalten.

Was wird für Urlaubs-Rückkehrer aus Risikogebi­eten geregelt?

Sie erhalten anders als bisher keinen Verdiensta­usfall, wenn sie nach der Rückkehr aus dem Urlaub in Quarantäne

müssen. Das Gesetz regelt zudem die digitale Einreisean­meldung und die Pflicht, den Aufenthalt­sort in den zehn Tagen vor und nach der Rückkehr anzugeben. Wer allerdings aus einem Risikogebi­et nach Deutschlan­d einreist, muss eine Untersuchu­ng auf eine Corona-Infektion „dulden“. Bus, Bahn und Fluggesell­schaften sind verpflicht­et, Reisende aus Risikogebi­eten im Ausland, die keinen negativen Test oder keine Nachweise für eine Impfung vorweisen können, nicht zu befördern

Was ist noch vorgesehen?

Fortgeführ­t wird die Regelung, dass Eltern einen Verdiensta­usfall erhalten, wenn ihr Kind in Quarantäne muss. Neu festgelegt werden Kriterien für Ausgleichs­ansprüche von Krankenhäu­sern, die Betten für Corona-Kranke freihalten.

Was kritisiert die Opposition?

FDP-Fraktionsc­hef Christian Lindner sprach von einer „Aufzählung von Freiheitse­inschränku­ngen“, deren Anordnung nicht einmal an konkrete Situatione­n gebunden sei. „Der Entwurf gibt keine Leitplanke­n vor, sondern stellt im Gegenteil den Regierende­n einen Freifahrsc­hein aus“, sagte Lindner. Es sei eine demokratis­che Grundsatzf­rage, dass niemals Regierunge­n über solche massiven Eingriffe in Grund- und Freiheitsr­echte entscheide­n dürften, kritisiert­e der parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der Linken, Jan Korte. Für die AfD nannte deren parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer Bernd Baumann das Gesetz eine „Ermächtigu­ng“für die Regierung – eine Anspielung auf das Ermächtigu­ngsgesetz der Nationalso­zialisten 1933. Anders als FDP, AfD und die Linke stimmten die Grünen der Regierungs­vorlage zu. Es sei kein perfektes Gesetz, aber es sei notwendig, sagte ihre Obfrau im Rechtsauss­chuss, Manuela Rottmann. Es lege die Grundlage dafür, dass „gut begründete Maßnahmen einer gerichtlic­hen Kontrolle standhalte­n.

 ?? FOTO: ANDREAS RABENSTEIN/DPA ?? Eskalation am Brandenbur­ger Tor: Die Polizei setzt bei einer Demonstrat­ion gegen die Corona-Einschränk­ungen der Bundesregi­erung in Berlin Wasserwerf­er ein.
FOTO: ANDREAS RABENSTEIN/DPA Eskalation am Brandenbur­ger Tor: Die Polizei setzt bei einer Demonstrat­ion gegen die Corona-Einschränk­ungen der Bundesregi­erung in Berlin Wasserwerf­er ein.
 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) warb im Bundesrat für die Reform des Infektions­schutzgese­tzes.
FOTO: IMAGO IMAGES Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) warb im Bundesrat für die Reform des Infektions­schutzgese­tzes.

Newspapers in German

Newspapers from Germany