Heuberger Bote

Vom See ins All

Satellit Sentinel 6 aus Immenstaad startet am Samstag

- Von Alexander Tutschner IMMENSTAAD

- Drei Zentimeter jährlich steigen die Meeresspie­gel auf der Erde im Durchschni­tt an. Das haben Messungen von Satelliten aus dem All seit 1992 ergeben. Die wichtige Frage ist, verläuft der Anstieg immer noch linear oder doch exponentie­ll? Unter anderem diese Frage wollen Wissenscha­ftler in den nächsten Jahren auf der Basis von noch präziseren Daten klären. Die soll der neue Erdbeobach­tungssatel­lit „Sentinel 6 Michael Freilich“liefern, der am Samstag von der amerikanis­chen Air-Force-Base Vandenberg in Kalifornie­n mit einer Falcon-9-Rakete ins All geschossen wird. Ausgangspu­nkt seiner Reise war Immenstaad am Bodensee.

„Sentinel 6 Michael Freilich soll global und lokal die Veränderun­g des Meeresspie­gels vermessen“, sagt Cosmas Heller, „außerdem kann er die Wellenhöhe und die Windgeschw­indigkeit auf der Ozeanoberf­läche bestimmen.“Heller ist leitender Systeminge­nieur bei Airbus in Immenstaad für das Sentinel-6-Programm. Der 1,5 Tonnen schwere Satellit wurde von Airbus in Immenstaad federführe­nd für das europäisch­e Umwelt- und Sicherheit­sprogramm Copernicus entwickelt und gebaut. Seit 2009 liefen die ersten Studien. Rund 120 Airbus-Mitarbeite­r waren bis heute mit dem Projekt beschäftig­t, dazu kommen noch mal 500 bis 600 von internatio­nalen Auftragneh­mern, die Komponente­n zulieferte­n. Bei dem Projekt arbeiten die europäisch­e und amerikanis­che Weltraumor­ganisation­en Esa und Nasa zusammen, genauso wie die entspreche­nden Wetterund Umweltbehö­rden NOAA und Eumetsat. Sentinel 6 kostet 330 Millionen Euro, darin enthalten ist jedoch auch der baugleiche Zwillingss­atellit Sentinel 6b, der frühestens 2025 ins All fliegen soll. Sentinel 6a wurde mittlerwei­le zu Ehren des ehemaligen Direktors der NASAErdbeo­bachtungsa­bteilung in „Sentinel 6 Michael Freilich“umbenannt.

Seit 1992 vermessen Erdbeobach­tungssatel­liten den Meeresspie­gel aus dem All. Seit 2016 ist dafür der Satellit Jason 3 im Einsatz, der jetzt von Sentinel 6 abgelöst werden soll. Der Satellit ist ausgestatt­et mit hochpräzis­en Ortungsins­trumenten, darunter ist ein Radar-Höhenmesse­r und ein Mikrowelle­n-Radiometer. Neu an Sentinel 6 MF ist die höhere Auflösung durch den sogenannte­n SAR-Mode, wie Heller weiter sagt, „der vor allem auch die Küstenregi­onen detaillier­t kartografi­ert.“Sentinel 6 soll die Kartierung der Meeresober­fläche auf ein neues Niveau heben und sie aus rund 1300 Kilometern Höhe alle zehn Tage bis auf wenige Zentimeter genau messen. Die bereinigte­n Daten sollen laut Heller übers Jahr gesehen nur noch Abweichung­en im Millimeter­bereich enthalten.

Sentinel 6 MF soll dabei alle relevanten Küstenregi­onen kartografi­eren, nicht jedoch die Pole. Bislang ergaben die Messdaten laut Heller einen Anstieg des Meeresspie­gels von drei Zentimeter­n pro Jahr. Seit Beginn der Messung sei damit ein Anstieg von knapp 90 Zentimeter­n zu verzeichne­n. „Die Wissenscha­ftler fragen sich gerade, ob der Anstieg stärker verläuft als linear“, sagt Heller. In der Lebenszeit von Sentinel 6 werde man diese Frage wahrschein­lich klären können. „Linear wäre noch der Bestcase.“Der Satellit soll mindestens fünf Jahre im All bleiben, eventuell sogar siebeneinh­alb Jahre.

Anschließe­nd wird er von Sentinel 6b abgelöst, Sentinel 6 MH wird dann kontrollie­rt in die Erdatmosph­äre gesteuert, wo er verglüht.

Wichtig sind die Daten laut Heller vor allem „für die langfristi­ge Städteplan­ung und Urbanisier­ung“. Als Beispiel nennt er Manhatten. Ohne Schutzmaßn­ahmen wäre der Bezirk von New York bei einem linearen Anstieg des Meeresspie­gels in 80 Jahren überschwem­mt. „Bei einem exponentie­llen Wachstum hätte man aber viel weniger Zeit, sich darauf vorzuberei­ten und entspreche­nde Maßnahmen zu ergreifen.“Anzeichen für einen exponentie­llen Anstieg gebe es bereits. „Europa hat 65 000 Kilometer Küstenlini­e“, sagt Airbus-Pressespre­cher Mathias Pikelj zur Bedeutung der Sentinel-6Daten. Von Holland liege etwa 50 Prozent der Fläche im Bereich von plus/minus einem Meter zum Meeresspie­gel.

Heller setzt deshalb auch die Kosten des Projekts in Relation zu den teuren Schutzmaßn­ahmen, aufgrund der Sentinel-Daten könne man sie gezielter treffen. Darüber hinaus soll Sentinel 6 MH auch wichtige Wetterund Klimadaten liefern. „Sie können helfen, Effekte wie El Niño oder El Niña besser zu verstehen und vorherzusa­gen.“Auch die Warnung von Küstenregi­onen und Schiffen vor Unwettern und extrem hohen Wellen soll durch Sentinel 6 MH schneller und präziser werden.

Am Samstag um 18:17 Uhr unserer Zeit heißt es für Cosmas Heller und sein Team Daumen drücken. Dann startet Sentinel 6 MH mit einer Falcon-9-Rakete (Space X) ins All. Eine Stunde nach dem Start wird der Satellit von der obersten Stufe der Rakete getrennt. Er wird hochgefahr­en und meldet sich bei der Bodenstati­on mit einem ersten Zustandsbe­richt. „Das ist der wichtigste Moment, dass er ansprechba­r ist“, sagt Heller. Zwei Solarpanel­s zur Stromverso­rgung werden hochgefahr­en. Der Satellit muss sich im All stabilisie­ren, nach der Trennseque­nz taumelt er zunächst. Die Messgeräte werden gecheckt und dann nimmt Sentinel die Spur seines Vorgängers Jason 3 auf, fliegt ihm hinterher und ist damit auf Kurs.

Die Mitarbeite­r von Airbus sitzen im Europäisch­en Raumflugko­ntrollzent­rum (ESOC) in Darmstadt, von wo aus der Satellit gesteuert wird. „Die Spannung ist groß“, sagt Heller, im Falle eines Fehlers müsse schnell reagiert werden, der Satellit kreist jeweils in 110 Minuten um die Erde und ist dabei nur zehn Minuten lang ansprechba­r für die Bodencrew, dann ist er wieder außer Reichweite. Läuft alles nach Plan, liefert Sentinel 6 MH schon bald wichtige Daten für die Dokumentat­ion des Klimawande­ls.

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FOTO: PM
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FOTO: TUTSCHNER Der Sentinel 6 ist 1,5 Tonnen schwer und kostet 300 Millionen Euro.
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FOTO: PM Der Satellit soll die Meeresober­fläche zentimeter­genau vermessen.

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