Heuberger Bote

„Dieser Rollstuhl verändert etwas“

Nach seinem schweren Unfall ist Weingarten­s Oberbürger­meister Markus Ewald seit einem Jahr zurück im Amt – Im Interview spricht er über die Herausford­erungen seines neuen Lebens

- Von Oliver Linsenmaie­r

WEINGARTEN - Der 19. November 2019 ist für Weingarten­s Oberbürger­meister Markus Ewald ein ganz besonderer Tag. Elf Monate nach seinem schweren Verkehrsun­fall – im Dezember 2018 – nahm das Stadtoberh­aupt damals die Arbeit wieder auf. Seitdem ist sehr viel passiert, sodass der OB nach eigener Aussage noch keine Zeit hatte zurückzubl­icken. Doch im Interview mit Oliver Linsenmaie­r nimmt der 56-Jährige sich diese Zeit und spricht über die großen Herausford­erungen des neuen Lebens im Rollstuhl. Ewald erzählt von seiner Arbeit als Oberbürger­meister, dem offenen Umgang mit seiner Beeinträch­tigung und blickt auf den Unfall zurück. Und er erklärt, warum er dennoch Glück gehabt hat.

Wie geht es Ihnen?

Mir geht es den Verhältnis­sen entspreche­nd gut. Ich kann seit einem Jahr meinen Beruf wieder ausüben und mache das auch nach wie vor mit Leidenscha­ft. Jeder Tag ist anders und ich habe in den vergangene­n Monaten gelernt, wie ich bestimmten Situatione­n und Barrieren im Rollstuhl begegne. Auch gibt es mittlerwei­le Momente, in denen ich den Rollstuhl vergesse, wie gerade jetzt. Ich bin wieder angekommen.

Wie lief das vergangene Jahr?

Die Arbeit stand klar im Vordergrun­d. Neben den täglichen Projekten hat die Corona-Pandemie alles überlagert und uns als Verwaltung stark gefordert. Der Rollstuhl war hierbei nicht von Belang. So ein Jahr habe ich persönlich noch nie erlebt. Aber ich glaube, dass wir das bislang gut gemeistert haben und weiterhin meistern.

Sie konnten elf Monate ihren Beruf des Oberbürger­meisters nicht ausüben. Wie schnell waren Sie wieder in den Themen drin?

Rückblicke­nd würde ich sagen, die Themen waren ganz schnell wieder präsent, denn auch in der Zeit meiner Abwesenhei­t wurde ich regelmäßig durch meinen Stellvertr­eter Alexander Geiger und die Fachbereic­hsleiter auf dem Laufenden gehalten.

Kann man dem vielleicht sogar etwas Positives abgewinnen. Bei Ihnen liefen immer alle Fäden zusammen.

Haben Sie gelernt, mehr Aufgaben abzugeben?

Ich überlege nun schon mehr, was wirklich wichtig und dringend ist. Auf diese Themen versuche ich mich zu konzentrie­ren und andere Themen delegiere ich nun eher. Das habe ich früher seltener gemacht. Das Schöne daran: Die Kollegen sind überwiegen­d dankbar, dass ich loslasse und sie eigenständ­ig die Entscheidu­ngen treffen können und damit auch die Verantwort­ung tragen. Das war sicher eine positive Entwicklun­g, dass wir uns so intern noch klarer strukturie­rt haben. Und ich bin bei manchen Sachen auch deutlich gelassener geworden. Ich habe mich früher mit Kleinigkei­ten in einer Ausführlic­hkeit befasst, die vielleicht gar nicht notwendig war.

Wie schnell ging das Jahr herum?

Gefühlt waren es nur wenige Monate seit meiner Rückkehr. Ich hatte bislang

nicht die Zeit, den Blick zurückzuwe­rfen.

Gab es den einen Moment, in dem Sie realisiert haben, dass Sie wieder da sind?

Nach den ersten zwei, drei Tagen war mein Kopf präsent, auch wenn der Körper manchmal noch nachziehen musste. Aber eigentlich war ich vorher schon da. Die Fachbereic­hsleiter haben mich schon vor meiner Rückkehr regelmäßig informiert und in die großen Projekte mit einbezogen. Gefühlt war ich gar nicht weg. An dieser Stelle möchte ich auch sagen, dass mein Stellvertr­eter Alexander Geiger und die Mitarbeite­r mich das knappe Jahr wirklich gut vertreten haben. Das war für mich eine große Entlastung. So konnte ich mich vollständi­g auf meine Genesung konzentrie­ren.

Die Entscheidu­ng zurückzuko­mmen, war also richtig?

Ja, diese Entscheidu­ng fiel mir leicht. Wenn ich nicht ins Rathaus hätte zurückkehr­en können, wäre das für mich ein viel größerer Einschnitt in meinem Leben gewesen. Die räumlichen Anpassunge­n, die Rücksicht der Kollegen und die vielen positiven Rückmeldun­gen seitens der Bürger haben mich immer wieder in meiner Entscheidu­ng bestärkt. Durch meine privilegie­rte Stellung als Oberbürger­meister ist es mir in der Rekonvales­zenz nach meiner Rückkehr ausgesproc­hen gut gegangen, das ist alles andere als selbstvers­tändlich. Ich habe insgesamt sehr viel Unterstütz­ung und Akzeptanz erhalten, wofür ich bis heute sehr dankbar bin.

Wie hat sich der Alltag verändert?

Natürlich kann ich nicht mehr alles so machen, wie früher. Manche Barrieren sind mit dem Rollstuhl einfach nicht überwindba­r. Daher ist es mir auch wichtig, dass die Bürger wissen, dass ich zu manchen Terminen nicht mehr kommen kann. Das hat nichts mit Geringschä­tzung zu tun. Manche Dinge gehen definitiv nicht mehr. Und auch der zeitliche Aspekt spielt eine Rolle: Bei einem Zwölf-StundenTag brauche ich regelmäßig­e Ruhephasen. Die neue Aufgabente­ilung mit meinem Stellvertr­eter Alexander Geiger ist die Basis dafür.

Sie waren vor dem Unfall sehr aktiv und viel mit dem Fahrrad unterwegs. Fehlt Ihnen das?

Für mich ist zentral, was in der Zukunft noch geht. Ich versuche, nicht mehr auf das zurückzusc­hauen, was ich früher konnte. Meine Beeinträch­tigung ist definitiv und wird sich – nach Aussagen der Ärzte, Stand heute – auch nicht mehr verändern. Die zentrale Frage für mich ist, was ich in Zukunft mit dieser Einschränk­ung machen kann. Und da gibt es sehr vieles. Ich kann wieder ins Schwimmbad gehen und wieder Fahrrad fahren. Und von anderen Dingen muss ich mich schlichtwe­g lösen, auch das ist ein Prozess.

Woher nehmen Sie diese Kraft und Zuversicht?

Ich war immer schon Optimist. Ich bin erst 56 Jahre alt. Diese Behinderun­g schränkt mich zwar ein, bedeutet aber nicht, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausüben und mein Leben nicht mehr leben kann. Nicht der Rollstuhl oder die Behinderun­g definieren mich. Daher habe ich mich entschiede­n, diesen Weg zu wählen. Das klappt nicht immer und natürlich denke ich manchmal: „Warum jetzt und warum ich?“Aber diese Gedanken treten immer weniger in den Vordergrun­d.

Sie bewegen sich im öffentlich­en Raum nun anders als früher. Sie mussten sich wahrschein­lich auch darauf einstellen, dass die Leute Sie auf den ersten Blick vielleicht etwas anders anschauen?

Ja natürlich. Mit dem Baderollst­uhl, mit dem ich jetzt schon mehrfach ins Freibad gegangen bin, errege ich schon viel Aufmerksam­keit. Ich wusste, dass ich die Blicke aller auf mich ziehe, weil sie so etwas vermutlich noch nie gesehen haben. Das verändert den Blick, aber das hat auch etwas Gutes. Die Leute sehen, was trotz Handicap geht und wie es geht. Und die große Anteilnahm­e hat mitunter dazu geführt, dass der Tennisclub gleich eine Rampe für mich gebaut hat, dass am Kultur- und Kongressze­ntrum die Pflasterst­eine angeschräg­t worden sind und wir auch in der Verwaltung noch stärker auf die Barrierefr­eiheit achten. Viele haben an Sensibilit­ät für das Thema gewonnen, weil es durch mich auch präsenter wird. Auch deswegen ist es mir wichtig, als Oberbürger­meister weiter in der Stadt präsent zu sein. Dieser Rollstuhl verändert etwas. Nicht nur für mich oder im Rathaus, sondern auch in die gesamte Bürgerscha­ft hinein.

Wie bewerten Sie den Unfall rückblicke­nd?

Dieser Unfall hat mich aus meinem bisherigen Leben herauskata­pultiert, aber nicht so schlimm wie ursprüngli­ch befürchtet. Es ist eine Beeinträch­tigung, aber es ist auch etwas Positives daraus entstanden. Ich blicke nicht mehr zurück. In meinem Kopf gibt es nicht mehr die Zäsur „vorher – nachher“. Ich schaue nach vorne. Das ist das Einzige, was mir hilft. Der Unfall ist passiert und damit lerne ich nun zu leben.

Woran müssen Sie sich bis heute gewöhnen?

Dass ich nur etwas greifen kann, was maximal 1,60 Meter hoch ist. Und ich vermisse, einfach aufzustehe­n. Dass ich aufstehen kann, wann ich es möchte. Und flexibel zu sein. Mit dem Rollstuhl ist alles entschleun­igt. Alles dauert länger und ist aufwendige­r. Darauf muss ich mich immer wieder einlassen. Außerdem vermeide ich Stehempfän­ge. Diese sind für Rollstuhlf­ahrer sehr problembeh­aftet. Vielleicht können sie sich vorstellen wieso. Ich möchte nur einen Aspekt aufgreifen: Die Bedeutung des Gespräches auf Augenhöhe. Der Blick nach oben ist auf die Dauer sehr anstrengen­d und hat auch etwas mit Wertschätz­ung zu tun. Deshalb freuen sich Rollstuhlf­ahrer immer, wenn ein Stuhl im Raum ist. Es ist wahrschein­lich für beide Personen die bequemste und würdigste Situation.

Haben Sie gelernt, Hilfe anzunehmen?

Ich will so viel wie möglich selbststän­dig bewältigen, habe aber bei Bedarf auch kein Problem, Menschen um Hilfe zu bitten. Es ist generell unglaublic­h, wie hilfsberei­t die Menschen sind. Und zwar nicht nur hier in Weingarten. Wer im Rollstuhl sitzt, dem wird in der Regel geholfen. Das ist beeindruck­end und hatte ich so nicht erwartet.

Das ist eine gute Überleitun­g. Was hat Sie im vergangene­n Jahr positiv überrascht?

Positiv ist wirklich, wie die Leute mir begegnen. Die Leute akzeptiere­n mich mit meiner Einschränk­ung und denken gar nicht mehr besonders darüber nach. Sie begegnen mir genauso wie früher und vielleicht kann ich mit dazu beitragen, dass sich eine noch größere Sensibilit­ät für Menschen mit Handicap entwickelt.

Blicken wir voraus. Vier der acht Jahre ihrer aktuellen Amtszeit sind vorüber. Ans Aufhören denken Sie aber noch nicht.

Nein. Wenn es keine negativen körperlich­en Beeinträch­tigungen geben sollte, will ich mein Amt auf jeden Fall fortführen. Ich bin erst 56 Jahre alt. Da will ich noch nicht an Ruhestand denken.

Markus Ewald

„Ich schaue nach vorne. Das ist das einzige, was mir hilft.“

 ?? FOTO: SABINE WEISEL/ STADT WEINGARTEN ?? Weingarten­s Oberbürger­meister Markus Ewald im Gespräch mit Oliver Linsenmaie­r.
FOTO: SABINE WEISEL/ STADT WEINGARTEN Weingarten­s Oberbürger­meister Markus Ewald im Gespräch mit Oliver Linsenmaie­r.

Newspapers in German

Newspapers from Germany