Ärger mit der Türkei
Welthungerhilfe-Expertin Singpiel aus Weingarten über die Not in Afghanistan
Die Türkei provoziert trotz drohender Sanktionen neue Spannungen mit Deutschland und der EU. Laut Bundeswehr erzwang Ankara den Abbruch eines deutschen Einsatzes im Rahmen der EU-Mission „Irini“zur Verhinderung von Waffenlieferungen nach Libyen. Deutsche Marinesoldaten der Fregatte „Hamburg“hatten sich von einem
Hubschrauber abgeseilt (Archivfoto: dpa), um auf einem türkischen Frachter zu kontrollieren. Aus dem Bundestag kam scharfe Kritik. In Brüssel wurde darauf hingewiesen, dass beim kommenden EU-Gipfel am 10. und 11. Dezember über mögliche weitere Strafmaßnahmen gegen Ankara gesprochen werden soll.
RAVENSBURG/KABUL – Afghanistan ist seit Jahrzehnten geprägt von Krieg und Terror. Die Corona-Pandemie verschärft die Situation für die Menschen weiter. Daher erhoffen sich Hilfsorganisationen von der zweitägigen Afghanistan-Geberkonferenz der Vereinten Nationen neue finanzielle Unterstützung. Bei dem virtuellen Treffen zwischen ihnen und Vertretern von 70 Staaten sollen noch bis zum heutigen Dienstag Gelder für die Unterstützung des Friedensprozesses gesammelt werden. Trotz Friedensgesprächen geht der Konflikt zwischen den Taliban und der Regierung weiter. Die gebürtige Weingärtnerin Alexandra Singpiel, Beraterin der Welthungerhilfe, ist in Afghanistan im Einsatz. Im Gespräch mit Mesale Tolu erklärt sie, wie sich die Corona-Pandemie auf das Land auswirkt, welche Folgen ein Rückzug der US-Truppen hätte und was sie sich von der Geberkonferenz erhofft.
Frau Singpiel, seit vier Jahrzehnten herrscht in Afghanistan Krieg. Wie ist die Lage aktuell?
In diesem Land spielen ganz viele verschiedene Krisen-Faktoren eine Rolle. Afghanistan ist nach wie vor gespalten, der Konflikt zwischen Taliban, anderen Oppositionsgruppen und der Regierung dauert immer noch an und geht inzwischen in sein 20. Jahr. Es gibt eine unglaublich hohe Zahl von bewaffneten Kämpfen: Während Konflikte zwischen bewaffneten Gruppen und Regierungsgruppen zunehmen, kann man aber gleichzeitig auch feststellen, dass seit Beginn der Friedensverhandlungen die internationalen Truppen kaum noch angegriffen werden.
Was besorgt Sie hinsichtlich der Corona-Pandemie besonders?
Vor allem zwei Folgen der Pandemie treffen das Land schwer. Zum einen die schlechte wirtschaftliche Lage, die der Bevölkerung stark zusetzt und langfristige Auswirkungen haben wird. Wir sehen, dass die Zahl der hungernden und unterernährten
Menschen, die ohnehin schon hoch war, sehr stark zugenommen hat. Bei der Lebensmittelversorgung ist Afghanistan auf Importe aus den Nachbarländern Pakistan und Iran angewiesen. Jede Verschlechterung der dortigen Situation betrifft unmittelbar auch die Menschen in Afghanistan. So kam es schon am Anfang des Jahres oft vor, dass auf den Wochenmärkten Lebensmittel knapp waren, weil der Nachschub fehlte. Die Preise für die knappen Waren sind stark gestiegen. Es besorgt uns als Welthungerhilfe, dass die Ernährungssicherheit der Menschen nicht gewährleistet ist. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie werden das Land langfristig beeinflussen und nachhaltig negative Auswirkungen haben. Zum anderen besorgt uns das schlechte Gesundheitssystem. Wir sehen, wie in Europa, auch in Afghanistan einen raschen Anstieg von Corona-Todeszahlen. Zuverlässige Informationen über die Zahl der Opfer sind kaum verfügbar. Das hängt auch damit zusammen, dass der Zugang zum Gesundheitssystem und zu den Krankenhäusern sehr stark eingeschränkt ist, und in keiner Weise mit dem in Deutschland vergleichbar ist. Es gibt viel zu wenige Ärzte und Krankenhäuser.
Die Welthungerhilfe betreibt 19 Projekte in Afghanistan. Welche Perspektiven hat das Land?
Man muss auf lange Sicht denken. Es gibt nichts, was sich von heute auf morgen für alle verbessern wird. Auch wegen der genannten Einschränkungen und Folgen von Corona. Hier in Afghanistan braucht man definitiv einen langen Atem. Genau deshalb versuchen wir, die Bevölkerung dabei zu unterstützen, dass sie langfristig auf eigenen Beinen stehen kann. Wir müssen Möglichkeiten schaffen, damit sich Familien zukünftig selber ernähren können. Das versuchen wir auf zwei Arten zu erreichen. Einerseits durch die humanitäre Hilfe, die akute Nothilfe beinhaltet, das heißt wir reagieren schnell auf Ereignisse, wie Überflutung und Vertreibung nach Kämpfen. Andererseits führen wir langfristige Entwicklungsprojekte durch, die die Gemeinden nachhaltig unterstützen. Dazu gehört beispielsweise der Anbau von Gemeinschaftsgärten, aber auch Schulungen zu Hygiene und gesunder Ernährung. Dabei arbeiten wir mit lokalen Partnerorganisationen und anderen Nicht-Regierungsorganisationen zusammen, um deren Kapazitäten und Fähigkeiten nachhaltig zu stärken.
Im Global Peace Index 2020 des Institute for Economics & Peace wird Afghanistan das zweite Jahr in Folge
als gefährlichstes Land der Welt eingestuft. Allein im ersten Halbjahr 2020 sollen 3458 Zivilisten ums Leben gekommen sein. Wie beurteilen Sie die Sicherheitslage?
Ich muss ganz klar sagen, dass wir eine humanitäre Hilfsorganisation sind und uns auf den Kampf gegen den Hunger konzentrieren. Generell ist es aber natürlich so, dass die Taliban derzeit einen Teil des Landes kontrollieren und daher nicht ignoriert werden können. Für uns hat die Sicherheit unserer Kolleginnen und Kollegen, die hier im Land arbeiten, oberste Priorität. Das ist immer wieder eine große Herausforderung, aber gehört hier eben auch zu unserem Job. Wir haben auch Expertinnen und Experten, die sich um diese Sicherheitsfragen kümmern.
Nach einer pandemiebedingten Pause sollen Abschiebungen aufgenommen werden. Ist Afghanistan sicher für Geflüchtete?
Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Gerade in Hinblick auf die Sicherheitslage. Wir haben als Hilfsorganisation auch nicht die rechtliche
Expertise, um bei diesem Thema beurteilen zu können, was richtig oder falsch ist. Was ich auf jeden Fall sagen kann ist, dass natürlich die Abschiebungen zu einem Zeitpunkt kommen, zu dem das Land ohnehin eine enorm schwierige Zeit durchmacht. Einmal sicherheitstechnisch und zum anderen auch aus wirtschaftlicher Sicht. Die Perspektiven für Rückkehrer sind nicht unbedingt die besten. Die Wirtschaftslage ist extrem angespannt. Es kommen auch viele Rückkehrer aus den Nachbarländern zurück, wo sie keine Perspektiven hatten, aber auch sie tun sich schwer. Für Menschen, die aus politischen Gründen geflüchtet sind, ist wichtig zu wissen, was sich seither im Land verändert hat und ob die derzeitige Lage eine Rückkehr ermöglicht.
Welche Auswirkungen hätte ein Abzug der US- und anderer internationaler Truppen auf das Land?
Da gibt es keine einheitliche Sichtweise. Es wird befürchtet, dass insbesondere die Frauen ihre errungenen Rechte wie Bildung und Gleichberechtigung wieder aufgeben müssen. Alle, die im Umfeld der ausländischen Truppen gearbeitet haben, werden ebenfalls voller Sorge sein. Andere hoffen, dass sich damit die Sicherheitslage insgesamt verbessern könnte. Es darf kein Signal dafür sein, dass wir das Land aufgeben, das wäre sicherlich fatal.
Was erhoffen Sie sich von der Geberkonferenz?
Die große Hoffnung von uns und anderen internationalen Nicht-Regierungsorganisationen ist, dass es nicht nur ums Geld geht, sondern auch um Frieden. Geld ist zwar wichtig, aber der Frieden und die langfristigen Perspektiven sind Aspekte, die auf dieser Konferenz nicht vergessen werden sollten. Frieden kann nicht erkauft werden. Im Rahmen dieser Konferenz werden neue politische Ziele gesetzt und Kriterien ausgearbeitet, wofür das Geld verwendet werden soll. Unsere Hoffnung ist, dass die inhaltliche Arbeit hier vor Ort sehr viel bewegen kann. Dafür ist es natürlich notwendig, dass die afghanische Regierung nicht allein, sondern in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und den Hilfsorganisationen für das Land neue Perspektiven schafft. Wichtig ist natürlich, dass die Regierung die Zivilgesellschaft als einen wichtigen Akteur auch anerkennt und stärkt.