„Durch Druck Bewusstsein ändern“
Landrat Bär nimmt zu den neuen Maßnahmen Stellung und erklärt, warum er nicht nur auf die Inzidenz schaut
Landrat Stefan Bär nimmt zu den neuen Maßnahmen im Kreis Stellung.
- Mit einem Inzidenzwert von 241,8 ist der Landkreis Tuttlingen auf der Corona-Lagekarte des Landes Baden-Württemberg weiter dunkelrot eingefärbt. Zusammen mit der Polizei hat das Landratsamt Tuttlingen nun weitere Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens beschlossen. Im Gespräch mit Redakteur Matthias Jansen wehrt sich Landrat Stefan Bär gegen den Eindruck, es sei zu wenig unternommen worden und erklärt, warum der Inzidenzwert ihm nicht so wichtig ist.
Landratsamt und Polizei haben sich auf verstärkte Kontrollen im ÖPNV und bei kirchlichen Veranstaltungen geeinigt. Das hat die Polizei in einer Pressemitteilung erklärt. Reicht das wirklich, um die Infektionszahlen effektiv zu verringern?
Wir haben uns auf mehr geeinigt.
Es sollen auch die öffentlichen Plätze und die Parkplätze bei Einkaufszentren kontrolliert werden (Der Satz fehlte in der gestrigen Pressemitteilung/Anm. d.
Red.). Für Einkaufsmärkte gelten beispielsweise noch die gleichen Regelungen wie im Frühjahr. Nur werden sie nicht mehr so beachtet wie damals, beispielsweise wer hineingehen darf und wie viele Menschen sich im Markt befinden. Da hat sich eine gewisse Nachlässigkeit eingeschlichen. Deshalb sollen auch die Betreiber sensibilisiert werden, ihre Maßnahmen wieder zu aktivieren. Insgesamt wollen wir die Sichtbarkeit erhöhen und durch die Polizeipräsenz das Bewusstsein für die bestehenden Verbote wieder schärfen.
Sie haben gesagt, dass der private Bereich ein großer Infektionsherd sei. Wie können Sie da durchgreifen?
Das ist schwierig. Die Unverletzlichkeit der Wohnung ist ein hohes Gut. Die Aussage mit dem privaten Bereich war aber auch anders gemeint.
Wie?
Bei den Infektionen erkennen wir nicht mehr den einen Anlass. Die Fallzahlen zeichnen das Bild, dass es meist Menschen zwischen 20 und 60 Jahren sind, die sich anstecken. Eine Gruppe, die mobil ist, die arbeitet, die einkauft, die in ihrer Freizeit etwas unternimmt. Ich war selbst kurzzeitig Kontaktperson. Weil ich einen engen Terminkalender habe, war es für mich relativ leicht nachzuvollziehen, mit wem ich Kontakt hatte. Ein Kontakttagebuch führen aber nur wenige Leute. Woher sie die Infektion haben, ist vielen ein Rätsel. Es ist nicht unser Unwillen, die Infektionsketten nicht nachzuvollziehen. Wenn die Leute nicht wissen, wo sie sich angesteckt haben könnten, tun wir uns natürlich bei der Nachverfolgung erheblich schwerer. In den familiären Clustern, also Ansteckungen innerhalb der Familien, gelingt dies noch.
Nach dem Anstieg der Sieben-Tages-Inzidenz auf 35 und 50 haben der Landkreis und die Kommunen Einschränkungen beschlossen. Warum ist danach bis zum Wert von 241 nichts mehr passiert?
Es ist Entscheidendes passiert. Die Rechtslage hat sich verändert. Bis zu einem Wert von 35 sollen die Gemeinden reagieren, ab einem Wert von 50 ist der Landkreis zuständig. Dann gab es die einheitlichen Regelungen von Bund und Land ab dem 2. November, die deutlich über unsere damalige Allgemeinverfügung hinausgehen und weitaus schärfere Einschränkungen mit sich gebracht haben. Wenn wir darüber hinaus nochmals hätten verschärfen wollen, hätten wir das gut begründen müssen und die Frage der Verhältnismäßigkeit wäre aufgekommen.
Warum?
Eine Möglichkeit wären Ausgangssperren oder das Schließen der Schulen und Geschäfte. Wir würden dann aber als Landkreis deutlich über das hinausgehen, was Bund und Land für notwendig halten. Das hätte schon eine besondere Lage erfordert, die wir so noch nicht sehen. Wir sind nicht der einzige Landkreis mit einem Inzidenzwert über 200. Und wie hätten wir im Landkreis handeln sollen? Wir haben Schwerpunkte in Tuttlingen, Trossingen und Spaichingen sowie viele unauffällige Gemeinden. Sollen wir dann die Vorgaben nur für die Städte oder alle Kommunen machen? Was löst das aus, wenn Schließungen nur in Tuttlingen gelten würden aber nebenan nicht. Dann würden sich doch nur Verschiebungen ergeben. Es gibt eben in vielen Gemeinden unterschiedliche Verhältnisse. Und im Übrigen sind wir uns alle darin einig, dass wir die Schulen nach Möglichkeit offenhalten und auch keine weiteren Schließungen von Geschäften wollen. Unsere Bürger müssen Maßnahmen auch verstehen können, wenn sie Akzeptanz finden sollen.
Bei der Bewertung schauen viele auf die Inzidenzwerte. Sie nicht ausschließlich?
Nein. Der Inzidenzwert stellt nur einen Teil des Infektionsgeschehens dar. Seit dem Beginn der zweiten Welle haben wir 1127 positive Fälle. Im Vergleich dazu hat der Landkreis Konstanz 2185. Dafür hat unser Kreis mit niedrigeren Einwohnerzahlen den höheren Inzidenzwert. Dieser ist auch nicht das einzige Kriterium. Wichtig ist auch die Situation in den Kliniken. Unser Krankenhaus ist voll aufnahmebereit. Die Aufnahme in den stationären Bereich wird ansteigen, aber mit drei Personen auf der Intensivstation hat sich die Lage vorerst stabilisiert.
Welche Möglichkeiten hat der Landkreis noch, um das Leben zu beschränken und die Infektionszahlen herunterzubekommen? Sie sprechen sich oft gegen Verbote aus. Appelle an die Vernunft reichen aber nicht.
Wir werden die Kontrollen verstärken und die Vergehen ahnden. Bisher hat es 30 Anzeigen gegeben. Die größte Veränderung erreicht man nicht über Verbote. Wir müssen durchaus mit Druck, das Bewusstsein ändern, damit die Leute zur Einsicht
kommen, dass sich im eigenen Handeln und Umfeld etwas tun muss. Das mag hilflos klingen. Der komplette Lockdown hat im März/ April die Zahlen runtergebracht. Wir waren uns aber alle einig, dass wir das nicht mehr wollen.
Wie ist die Lage im Gesundheitsamt, die die Personennachverfolgung leisten muss?
Angespannt. 90 Personen machen die ganze Woche nichts anderes, als sich mit Corona und Fallzahlen zu beschäftigen. Die Bundeswehr sollte eigentlich Anfang Dezember wieder abgezogen werden. Wir wollen den Einsatz verlängern und die Zahl der Soldaten nochmals aufstocken. Wir sind optimistisch, dass wir das hinbekommen. Wir fischen aber auch in vielen Teichen – beispielsweise beim Zoll oder der Bundespolizei. Das ist schwierig umzusetzen. Solange helfen wir uns selbst und stellen eigenes Personal ab.
Stimmt es, dass das Landratsamt einen Juristen eingestellt hat, der sich ausschließlich mit CoronaWidersprüchen beschäftigt?
Nein, das ist eine Mär. Wir stellen Personal ein, aber nicht zu diesem Zweck.