Heuberger Bote

Corona-Pandemie macht Kinder unglücklic­h

Tübinger Studie belegt Verlust der Lebensqual­ität – Warnung vor Wechselunt­erricht

- Von Mesale Tolu und epd TÜBINGEN/RAVENSBURG

- Schulschli­eßungen im Frühjahr, Wechselunt­erricht, Kontaktbes­chränkunge­n – die Corona-Pandemie setzt Kindern und Jugendlich­en weltweit zu. Laut einer Untersuchu­ng der Universitä­ten Tübingen und Luxemburg hat sich der Anteil junger Menschen in Deutschlan­d, die mit ihrem Leben zufrieden sind, nahezu halbiert. Während vor der Krise 95 Prozent der Befragten zufrieden oder sehr zufrieden gewesen seien, sei dieser Wert auf 53 Prozent gesunken.

Den jungen Leuten fehlt nach eigenen Angaben insbesonde­re der Kontakt zu Freunden und Verwandten. „Am häufigsten erwähnten die Kinder und Jugendlich­en die Sorge, in der Schule schlechter zu werden oder dass sie selbst oder jemand, der ihnen nahesteht, krank werden könnte“, sagte Sascha Neumann vom Institut für Erziehungs­wissenscha­ft der Universitä­t Tübingen, einer der Studienlei­ter, der „Schwäbisch­en Zeitung“. Den stärksten Einbruch ihrer Lebensqual­ität erlebten Minderjähr­ige in Brasilien. Aber auch in Deutschlan­d sei der Rückgang stärker gewesen als etwa in Luxemburg und der Schweiz, so Neumann.

Zudem hatten mehr als die Hälfte der deutschen Grundschül­er (53 Prozent) während der Schulschli­eßung quasi keinen Kontakt zu einem Lehrer. Gaben unter den in Deutschlan­d Befragten vor Corona mehr als 90 Prozent an, mit der Schule zufrieden oder sehr zufrieden zu sein, so sagten dies für die Zeit seit Beginn der Krise nur noch etwas mehr als 50 Prozent. Grundlage der Studie mit dem Titel „Covid Kids“ist eine Online-Befragung von mehr als 3000 Sechs- bis Sechzehnjä­hrigen aus Brasilien, Deutschlan­d, Luxemburg und der Schweiz von Mai bis Juli.

Derweil rückt nach der Verschärfu­ng der Maßnahmen auch im Süden Deutschlan­ds neuerliche­r Wechselunt­erricht in den Schulen wieder näher. In Baden-Württember­g und Bayern sollen Schulklass­en ab einer Corona-Inzidenz von mehr als 200 ab Klassenstu­fe acht künftig in der Regel geteilt werden, wenn Mindestabs­tände nicht eingehalte­n werden können. Sollte dies über einen längeren Zeitraum geschehen, hält Forscher Neumann Wechselunt­erricht für „problemati­sch“.

(lsw) - An Schulen in Baden-Württember­g soll es bei sehr hohen Fallzahlen künftig Wechselunt­erricht geben. Dies kündigte Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) nach den Beratungen von Bund und Ländern zu neuen Corona-Maßnahmen am Donnerstag im Südwestrun­dfunk an. Im Landtag erklärte er, dass bei mehr als 200 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner in einer Woche zusätzlich­e Maßnahmen ab Jahrgangss­tufe 8 getroffen werden sollen. Wie der Wechselunt­erricht konkret umgesetzt werden soll, blieb zunächst unklar. Nach den Daten des Landesgesu­ndheitsamt­s vom Mittwoch wurde diese 200er-Grenze zuletzt in den Stadtkreis­en Heilbronn, Mannheim, Pforzheim und im Landkreis Tuttlingen überschrit­ten.

Schulen und Kitas in Deutschlan­d sollen in der Corona-Pandemie auch weiterhin grundsätzl­ich geöffnet bleiben. Die Einigungen von Bund und Ländern vom Mittwochab­end zu neuen Corona-Maßnahmen sehen vor, dass Wechselunt­erricht nur bei Schülern ab der 8. Klasse zum Einsatz kommen soll – und wenn die Corona-Zahlen den Wert von 200 Neuansteck­ungen pro 100 000 Einwohnern pro Woche übersteige­n. Der sogenannte Hybridunte­rricht wird auch nicht verpflicht­end, sondern nur als Beispiel für etwaige Zusatzmaßn­ahmen bei starkem Infektions­geschehen genannt. Über die Maßnahme solle weiterhin vor Ort und „schulspezi­fisch“entschiede­n werden. Die Maßnahme, bei der etwa Klassen halbiert und abwechseln­d zu Hause und in der Schule unterricht­et werden, ist in der Landesregi­erung umstritten. Kultusmini­sterin Susanne Eisenmann (CDU) hatte sich am Mittwoch noch vehement gegen Forderunge­n gewandt, Schüler im Wechsel in der Schule und zu Hause unterricht­en zu lassen. „Wechselunt­erricht in Baden-Württember­g wäre ein existenzie­ller Fehler“, sagte sie bei einer Kundenkonf­erenz in Stuttgart. Die Kultusmini­sterin sehe da eben manche Dinge anders, beschwicht­igte Kretschman­n im Landtag die Differenze­n zur CDU. „Ich weiß gar nicht, was daran so überrasche­nd sein soll.“Da würden große Differenze­n in der Koalition konstruier­t, die gar nicht existierte­n.

Das Offenhalte­n der Schulen sei eine klare politische Entscheidu­ng. „Unterricht in Baden-Württember­g ist die letzte Großverans­taltung, die wir zulassen“, sagte der Regierungs­chef mit Blick auf 1,5 Millionen Schülerinn­en und Schüler im Land.

CDU-Fraktionsc­hef Wolfgang Reinhart betonte am Donnerstag, Wechselunt­erricht benachteil­ige schwächere und bildungsfe­rnere Kinder. Fernlehren sei immer die schlechter­e Lösung und müsse Ultima Ratio bleiben. Schulen seien weiter keine Infektions­treiber. Nur vier von 4500 Schulen im Land seien derzeit geschlosse­n, sagte Reinhart.

Wer Wechselunt­erricht wolle, müsse die Frage stellen, was das für die Betreuung der Kinder und für die

Eltern bedeute, sagte FDP-Fraktionsc­hef Hans-Ulrich Rülke. Der SchulLockd­own im Sommer habe gezeigt, dass schwächere Kinder im Fernunterr­icht abgehängt würden.

Der Philologen­verband BadenWürtt­emberg nannte den Schritt hingegen absolut nicht ausreichen­d. Eine Inzidenz von 200 bedeute, es gebe dauerhaft im Mittel mindestens einen positiven Fall pro weiterführ­ender Schule. Der Verband bekräftigt­e seine Forderung nach Raumluftre­inigungsge­räten in allen Unterricht­szimmern und den Übergang zu Wechselunt­erricht bereits ab einer Inzidenz von 50 auf Kreisebene. Auch dem Berufsschu­llehrerver­band ist die 200er-Schwelle zu hoch. Es brauche weitere Hygiene- und Schutzmaßn­ahmen, wenn es weiterhin Präsenzunt­erricht geben soll.

Kretschman­n verteidigt­e im Plenum auch den geplanten früheren Start in die Weihnachts­ferien. Er appelliert­e an die Bürger, sich selbst freiwillig in Quarantäne zu begeben. Aus Sicht von Rülke ist es naiv zu glauben, dass Kinder ihre Ferien in Quarantäne verbrächte­n, damit man Oma und Opa an Heiligaben­d nicht anstecke.

Um die Zahl der Kontakte direkt vor den Feiertagen und damit die Ansteckung­sgefahr im Familienkr­eis zu verringern, sollen die Weihnachts­ferien in fast ganz Deutschlan­d gleichzeit­ig am 19. Dezember beginnen, dem Samstag vor Heiligaben­d. Im Südwesten wie in mehreren anderen Ländern werden die Ferien damit vorgezogen.

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FOTO: ULI DECK/DPA Unterricht abwechseln­d zu Hause und in der Schule. So sollen Schulen auf hohe Fallzahlen reagieren.

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