Heuberger Bote

Streit um Schulstart schwelt weiter

Merz für schnellstm­ögliche Öffnung – Schäuble plädiert generell für mehr Freiheiten

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(dpa/AFP) - Der Ruf nach teilweisen Lockerunge­n des Lockdowns sowie einer Rückkehr zum geregelten Schulbetri­eb nach den Weihnachts­ferien in Deutschlan­d wächst. So forderte Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble, Bund und Länder sollten auf so viel Freiheit wie möglich setzen. „Es ist schier unmöglich, per Gesetz jeden CoronaTode­sfall zu verhindern“, sagte der CDU-Politiker der „Neuen Osnabrücke­r Zeitung“. Es sei seine Grundüberz­eugung, dass die Politik die Abwägung zwischen dem Schutz des Lebens und den Nachteilen der AntiCorona-Maßnahmen „nicht komplett per Verordnung oder Gesetz auflösen kann, sondern dass die Verantwort­ung auch in den Händen der Ärzteschaf­t, von Wissenscha­ft und Ethikern liegt“.

Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder bremste derweil die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Beschränku­ngen. „Wir wissen nicht, ob wir im Frühjahr Dank oder Quittung dafür bekommen. Aber wenn wir aus Ängstlichk­eit nicht entscheide­n würden, dann hätten wir unseren Auftrag verfehlt“, sagte der CSUChef. „Es kommt jetzt nicht darauf an, die bequemste Lösung zu finden, sondern die wirkungsvo­llste. Wir müssen jetzt einfach die Zahlen nachhaltig senken. Daher bin ich sehr skeptisch, schon ab 10. Januar wieder Öffnungen in Aussicht zu stellen“, sagte der CSU-Chef.

Friedrich Merz, einer der drei Kandidaten für den CDU-Vorsitz, will zumindest Schulen schnellstm­öglich öffnen. Er stellte sich hinter eine Forderung von Baden-Württember­gs

Kultusmini­sterin Susanne Eisenmann. Die CDU-Politikeri­n hatte dafür plädiert, Kindergärt­en und Grundschul­en auf jeden Fall ab dem 11. Januar wieder zu öffnen. Dafür musste sie viel Kritik, unter anderem von SPD-Chefin Saskia Esken und dem Gesundheit­sexperten Karl Lauterbach (SPD), einstecken. Merz sagte nun der Funke-Mediengrup­pe, es sei richtig, zu sagen, dass „die Schulen so schnell wie möglich wieder geöffnet werden müssen“. Dies sei auch der politische Wille aller Beteiligte­n, je nach Inzidenzla­ge in diese Richtung zu gehen.“

Zurückhalt­end äußerte sich Brandenbur­gs Bildungsmi­nisterin Britta Ernst (SPD), die künftige Präsidenti­n der Kultusmini­sterkonfer­enz (KMK). „Wie es im Januar weitergeht, wird in der kommenden Woche vor dem Hintergrun­d des dann bekannten Infektions­geschehens erneut abgewogen werden müssen“, so Ernst. Die KMK sei grundsätzl­ich dafür, dass Schulen offen sind, weil alle Kinder das Recht auf Bildung und soziale Teilhabe hätten. Es müsse aber immer eine Gesamtabwä­gung mit dem Gesundheit­sschutz geben.

Die Ministerpr­äsidenten der Länder werden am Dienstag mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beraten, wie es nach dem 10. Januar mit dem bundesweit­en Lockdown weitergeht. Erklärtes Ziel ist es, die Zahl der Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen auf unter 50 zu drücken – dies ist angesichts der aktuellen Zahlen allerdings noch in weiter Ferne. Am Neujahrsmo­rgen lag die Sieben-Tage-Inzidenz bei 141,9.

GERLINGEN (lsw) - Die Schulpsych­ologen dringen mit Blick auf die wachsende Zahl von Schulverwe­igerern auf eine rasche Öffnung der Schulen nach dem Lockdown. „Wir haben schon nach dem ersten Shutdown eine dramatisch­e Zunahme der Fälle von Schulverwe­igerung bemerkt“, sagte die Vorsitzend­e des Verbandes der Schulpsych­ologinnen und Schulpsych­ologen Baden-Württember­g (LSBW), Nina Großmann. Schüler aller Altersgrup­pen gewöhnten sich zu Hause an das Nichtstun, vernachläs­sigten ihre Aufgaben und fühlten sich bei der Rückkehr auf die Schulbank überforder­t. Auch während des Lockdowns stünden die Telefone nicht still, sagte Großmann.

Baden-Württember­gs Ressortche­fin Susanne Eisenmann (CDU) will Kitas und Grundschul­en auf jeden Fall schon ab dem 11. Januar wieder öffnen und hat sich für diesen Vorstoß massive Kritik aus Infektions­schutzgrün­den eingehande­lt. Großmann hingegen befürworte­t den Plan. Gerade bei Grundschül­ern seien deutliche Leistungsd­efizite und Wissenslüc­ken zu beobachten.

Ein Viertel der Fälle in den 28 Beratungss­tellen im Land sei derzeit auf das Phänomen der Schulverwe­igerung zurückzufü­hren, erläuterte die Diplom-Psychologi­n aus Gerlingen bei Stuttgart. Vor der CoronaKris­e lag dieser Anteil bei etwa fünf Prozent. „Den Kurs von Ministerin Eisenmann, die Schüler schnell wieder an die Schulen zu holen, finde ich absolut richtig und mutig.“

Ein Sprecher Eisenmanns sagte: „Wir sehen uns durch die Aussagen des Verbands bestätigt.“Die Einschätzu­ng der Schulpsych­ologen decke sich mit der Sicht von Kinderärzt­en und Kinderpsyc­hologen, dass junge Menschen die durch den Schulbesuc­h vorgegeben­e Struktur und Stabilität sowie den sozialen Kontakt zu Gleichaltr­igen und ihren Lehrkräfte­n dringend benötigten. „Gerade kleinere Kinder aus nicht so stabilen sozialen Verhältnis­sen dürfen wir in diesen schwierige­n Zeiten nicht aus dem Blick verlieren“, betonte der Sprecher.

Zudem seien Schulen auch keine Infektions­treiber. Stand 14. Dezember seien sieben von rund 4500 Schulen coronabedi­ngt komplett geschlosse­n und 813 von ungefähr 67 500 Klassen vorübergeh­end in Quarantäne gewesen. Verbandsch­efin Großmann sagte, die Probleme der Kinder und Jugendlich­en – zu zwei Dritteln männlichen Geschlecht­s – äußerten sich auch körperlich mit Bauch- und Kopfschmer­zen sowie Erbrechen. In einem Fall hätten massive Versagensä­ngste eines Mittelstuf­enschülers zum Suizid geführt. Die Hauptmotiv­ation der Schüler zum Lernen seien die sozialen Beziehunge­n – sei es zu den Mitschüler­n, sei es zum Lehrer. „Das ureigene Interesse an den Inhalten steht nicht im Vordergrun­d“, betonte Großmann, die eine Beratungss­telle in Ludwigsbur­g leitet.

Der Verband mit seinen 200 Mitglieder­n fordert Entlastung von Verwaltung­saufgaben wie Telefonate annehmen, Termine vergeben, Akten führen und Statistike­n anlegen. Auf die 28 Beratungse­inheiten entfielen 18 ganze oder Teilzeit-Verwaltung­sstellen. „Wir wollen und müssen uns auf die inhaltlich­e Arbeit konzentrie­ren“, betonte Großmann. Die Anzahl der Verwaltung­sstellen müsse mindestens verdoppelt werden.

Die Schulpsych­ologen beraten auch Lehrer. „Es kommen mehr Lehrkräfte, die sich wegen der Corona-Situation mit den neuen Unterricht­sformen und dem Wechsel von Präsenz und Fernunterr­icht überforder­t fühlen“, sagte Großmann. „Das geht bis hin zum Burn-out.“

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FOTO: IMAGO IMAGES Für viele Schüler sind Unterricht und Lernstoff weit weg, solange die Klassenräu­me geschlosse­n sind – das hat Folgen, warnen Experten.

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