Heuberger Bote

Im Wahn 23 Autos zerkratzt

33-Jähriger muss sich wegen schwerer Sachbeschä­digung verantwort­en

- Von Lothar Häring TUTTLINGEN/ROTTWEIL

- Er hat in einem Tuttlinger Straßenzug 23 Autos zerkratzt und dabei einen Schaden von mehr als 30 000 Euro angerichte­t. Er hat zwei junge Frauen belästigt und bedrängt. Und er hat ein langes Vorstrafen­register. Jetzt ist ein 33-jähriger Mann aus Tuttlingen vor dem Landgerich­t Rottweil wegen einer paranoiden Schizophre­nie und damit Schuldunfä­higkeit freigespro­chen und in die Psychiatri­e eingewiese­n worden.

Hinter allem steht das Drama einer italienisc­hen Gastarbeit­erfamilie. Eltern in den 70er-Jahren aus einem Dorf in den Abbruzzen als Gastarbeit­er nach Tuttlingen kamen, wie beide tagtäglich der Arbeit nachgingen, wie für ihn und seine Schwester – beide in Tuttlingen geboren – wenig Zeit blieb und sie von einem Kindermädc­hen betreut wurden. Und dass zu Hause meist Italienisc­h gesprochen wurde.

Eher beiläufig sagt der 33-Jährige sein Vater sei im vergangene­n Jahr bei einem Unfall tödlich verunglück­t. Das alles hat Folgen. Er schafft zwar die Hauptschul­e, nicht aber die Lehre als Karosserie­bauer, die er im dritten Lehrjahr abbricht. Über Zeitarbeit­sfirmen findet er Jobs, ist aber unzufriede­n, kommt mit Cannabis in Kontakt und verfällt der Droge. Erste Psychosen stellen sich ein, er rutscht in die Kleinkrimi­nalität ab mit Schlägerei­en, Diebstähle­n und Betrügerei­en. Er wird in die Psychiatri­e eingewiese­n oder weist sich selber ein, kommt wieder heraus und alles beginnt wieder vor vorne, insgesamt sieben Mal, weil er die Medikament­e allenfalls sporadisch nimmt. Er sinkt so tief, dass ihm im Jahr 2010, mit 23 Jahren, eine Erwerbsmin­derungsren­te in Höhe von 530 Euro monatlich gewährt wird. Die Konflikte eskalieren auch im Häuschen, das sich seine Eltern hart erarbeitet haben und in dem er zusammen mit seiner Partnerin und dem gemeinsame­n Sohn wohnt. Bald zieht sie wieder aus. Er versetzt die Eltern mit seinen regelmäßig­en Ausfällen, zu denen mehrfach die Polizei gerufen werden muss, in Angst. Je mehr Rauschgift­e er konsumiert, umso schlimmer die Verwirrung, die Halluzinat­ionen und die Stimmen in seinem Kopf.

Dann kommt jene Nacht zum 3.

Februar 2019, als er auf dem Heimweg von einer Bar mit einem Schraubenz­ieher 23 Autos zum Teil tief zerkratzt. Die Ermittler widerlegen vor Gericht seine Version, er habe zuvor eine dreivierte­l Flasche Wodka getrunken. Alkohol war nie sein Problem,

Auslöser waren wieder die Wahnvorste­llungen. Als wolle er sie einfach wegschiebe­n, beteuert jetzt: „Ich höre keine Stimmen mehr, ich bin nicht mehr verwirrt, ich fühle mich gut!“

Als die Mutter in den Zeugenstan­d tritt, wird schnell klar, dass sie mit der Situation völlig überforder­t ist. Nicht nur, weil sie eine Dolmetsche­rin benötigt. „Ich will meinem Sohn helfen“, sagt sie, als Karlheinz Münzer, der Vorsitzend­e Richter, fragt, ob sie von ihrem Recht Gebrauch machen wolle, die Aussage zu verweigern. Sie geht dann auch allenfalls indirekt auf die zahlreiche­n häuslichen Konflikte ein. In einem aber ist sie ganz klar: Sie schließt aus, dass ihr Sohn ins Haus zurückkehr­t.

„Ich will meinen Frieden und er muss sich eine Arbeit suchen und selbststän­dig werden!“

Nach der Tat vom Februar 2019 bleibt der Täter zunächst auf freiem Fuß. In der Folge belästigt und bedrängt er zwei junge Frauen am Rand der der Tuttlinger Innenstadt, wie sie als Zeugen berichten. Er entschuldi­gt sich bei beiden und beteuert, es tue ihm leid.Schließlic­h erlässt das Landgerich­t Rottweil am 8. August 2020 einen Beschluss, wonach er vorläufig ins Zentrum für Psychiatri­e Reichenau einzuweise­n ist. Dort, so erklärt Ralph Michael Schulte, der psychiatri­sche Gutachter, habe der junge Mann zum ersten Mal eine angemessen­e Behandlung erfahren und befinde sich zwar auf einem ungewöhnli­ch guten Weg, sei allerdings längst nicht am Ziel angelangt und noch immer eine Gefahr für die Allgemeinh­eit. Deshalb sei eine weitere Behandlung in der geschlosse­nen Psychiatri­e notwendig, um dann im besten Fall nach stufenweis­en Lockerunge­n frühestens nach sechs Monaten eventuell wieder in Freiheit zu kommen.

Der 33-Jährige ist enttäuscht und beklagt in einer Pause gegenüber seiner Verteidige­rin laut und deutlich:

„Ich habe keinen Bock mehr eingesperr­t zu werden. Ich habe geglaubt, ich komme frei. Mein Leben ist am Arsch!“Oberstaats­anwalt Michael Gross folgt dem Gutachter, beantragt Freispruch wegen Schuldunfä­higkeit und Einweisung in die Psychiatri­e, während Verteidige­rn Marie-Theres Schilling in einem kaum zweiminüti­gen Plädoyer fordert, die Einweisung auf Bewährung auszusetze­n. Aber dann, so hatte zuvor der Gutachter erklärt, wäre der Patient, binnen vier Wochen wieder im alten, verhängnis­vollen Fahrwasser.Und so ist es keine Überraschu­ng, dass die 1. Große Strafkamme­r sich in ihrem Urteil ebenfalls dem Gutachter anschließt: Freispruch und Einweisung in die geschlosse­ne Psychiatri­e, weil der 33Jährige weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinh­eit darstelle. Im Gegensatz zu Schulte will Richter Münzer allerdings keine Prognose abgeben, wie lange der Heilungspr­ozess dauern könnte. Einen Irrtum spricht der Richter noch an: Im Jahr 2015 sei der junge Mann schon einmal in die Psychiatri­e eingewiese­n worden, dann aber freigekomm­en, weil man geglaubt habe, es bestehe keine Rückfall-Gefahr.

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