Heuberger Bote

RAMSAU Toteis

Der Blaueisgle­tscher in den Berchtesga­dener Alpen wird die 2020er-Jahre nicht überstehen – Wie ein Gigant stirbt

- Von Marius Buhl

- Manchmal, wenn Raphael Hang die Sehnsucht nach der Vergangenh­eit überfällt, unternimmt er eine Zeitreise. Er sitzt dann in der kleinen Kammer seines Holzhauses im Dorf Ramsau im Berchtesga­dener Land und schaltet seinen alten Diaprojekt­or ein. Behutsam legt Hang, 81 Jahre alt, schlohweiß­e Haare, die Dias ein.

Das erste, das er an diesem Tag betrachtet, ein Farbfoto aus den Sechzigern, zeigt ihn selbst: ein junger Mann im Anorak mit Pelzkragen, Steigeisen an den Füßen, einfacher Hanfstrick um die Hüfte. Hang klettert im steilen Eis. Das zweite Foto, das Hang ansieht, zeigt eine Eishöhle. Ein riesiger Hohlraum unter einem massiven Gletscher, ein Mann steht aufrecht darin. Eine Momentaufn­ahme in Schwarz-Weiß.

Das dritte Dia zeigt ein gewaltiges Bergpanora­ma, links die Blaueisspi­tze, geradeaus die senkrechte Nordwand des Hochkalter­s, rechts der Rotpalfen. Ein vor Vitalität berstender Gletscher zieht zwischen den Bergen herab, darin tiefe Spalten, die sich quer durchs scheinbar ewige Eis ziehen. Es ist dieser Gletscher, von dem Raphael Hang träumt, wenn er in die Vergangenh­eit reist.

Raphael Hang ist auf der Blaueishüt­te aufgewachs­en, ganz in der Nähe seines heutigen Holzhauses in Ramsau – nur 1000 Meter weiter oben. Als er zur Welt kam, 1939, wurde die Hütte von seinem Vater geführt, Raphael Hang I. Später übernahm er selbst als Wirt, 2010 übergab er die Hütte an seinen Sohn, Raphael Hang III., der die Hütte heute bewirtscha­ftet. Seit 92 Jahren heißt der Wirt der Blaueishüt­te nun Raphael Hang. Und wann immer einer der Hangs auf die Terrasse der Hütte trat und hinaufblic­kte Richtung Hochkalter, war da: Eis. Mattblau schimmernd­es Eis. Der Blaueisgle­tscher. Die Frage ist, wie lange noch.

Das Eis der Gletscher schmilzt. Nicht nur in Bayern, weltweit. Bis 2050, das haben Forscher der Eidgenössi­schen Technische­n Hochschule Zürich errechnet, wird jeder zweite Alpenglets­cher verschwund­en sein. So wird es kommen, selbst wenn alle Staaten der Erde sofort ihren CO2-Ausstoß auf null zurückfahr­en würden. Was in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunder­ts passiert, darauf hat die Menschheit noch Einfluss. Im besten Fall – die Erwärmung müsste dafür unter zwei Grad Celsius gehalten werden – würden zwei Drittel der Alpenglets­cher verschwind­en, nur ein paar der größten blieben übrig. Wahrschein­licher ist: In 80 Jahren sind die Alpen nahezu eisfrei. Fünf Gletscher gibt es heute noch in Deutschlan­d. Im Gebiet rund um die Zugspitze den Südlichen Schneefern­er, den Nördlichen Schneefern­er und den Höllentalf­erner, in den Berchtesga­dener Alpen den Watzmanngl­etscher und das Blaueis. Zusammenge­nommen bedecken sie gerade noch eine Fläche so groß wie die Münchner Theresienw­iese, auf der das Oktoberfes­t stattfinde­t. Am stabilsten sind der Höllentalf­erner und der Nördliche Schneefern­er, auf dem ein Schlepplif­t steht und zumeist Mitte November die Skisaison beginnt. Die restlichen drei, der Watzmanngl­etscher, der Südliche Schneefern­er und das Blaueis, liefern sich ein trauriges Wettrennen: Welcher verschwind­et zuerst?

Der Mann, der die bayerische­n Gletscher so gründlich erforscht hat wie niemand sonst, heißt Wilfried Hagg. Hagg ist 48 Jahre alt und Professor an der Hochschule München, Fakultät für Geoinforma­tion, Studiengan­g „Kartograph­ie und Geomedient­echnik“. Wenn man so will, ist Hagg der Arzt – und der Blaueisgle­tscher sein Patient.

Gleich zu Beginn seiner Studien sammelte der Wissenscha­ftler alle Messdaten, die er über den Gletscher finden konnte, vereinheit­lichte und verglich sie. Dann begann er, selbst den Felsenkess­el am Blaueis hinaufzust­eigen. Alle paar Jahre stellt er dort nun sein Laser-Vermessung­sgerät auf und vermisst die verbleiben­de Eisfläche. Seine Ergebnisse komplettie­ren eine historisch­e Zahlenreih­e.

1889: 16,4 Hektar.

1949: 15,2.

1970: 12,6.

1989: 12,3.

2009: 4,7.

2018: 3,5.

Am besten vergleiche man einen Gletscher mit einem Girokonto, sagt Wilfried Hagg. Der Schnee, der im Winter falle und liegen bleibe, sei die Einzahlung. Das Eis, das im Sommer schmelze, die Abbuchung. Wenn sich beides die Waage halte oder die Einnahmen die Ausgaben gar überstiege­n, sei die Haushaltsf­ührung gesund. In den Alpen sei das seit Langem eine Utopie. Besonders am Blaueisgle­tscher.

Kann man ihn überhaupt noch so nennen – Gletscher? Definition­sgemäß müsse eine Eisfläche, egal wie groß, sich unter ihrem eigenen Druck bewegen, um als Gletscher zu gelten, erklärt Hagg. „Eine unbewegte Eisfläche gilt als Toteis.“Und wer entscheide­t, wann ein Gletscher sich nicht mehr bewegt? Wilfried Hagg lehnt sich im Bürostuhl zurück. „Es gibt da keine genauen Zuständigk­eiten“, sagt er. „Aber da im Zweifel wir gefragt werden: wir.“

Mit seinem Kollegen Christoph Mayer von der Bayerische­n Akademie der Wissenscha­ften hat Hagg für die Staatsregi­erung gerade den aktuellen Gletscherb­ericht verfasst, im Frühjahr soll er erscheinen. Wird das Blaueis darin für tot erklärt? „Die unteren Teile“, sagt Hagg, „sind eindeutig Toteis.“An der obersten, steilen Flanke könne man aber sogenannte Ogiven ausmachen, leicht nach unten gebogene Linien im Eis. Sie entstehen, wenn sich ein Gletscher in der Mitte schneller bewegt als am Rand.

Wäre der Gletscher tatsächlic­h ein Patient, er würde wohl regungslos auf der Intensivst­ation liegen. Er würde nahezu keine äußeren Lebenszeic­hen mehr zeigen. Aber die Ärzte könnten noch Hirnströme messen. „Nirgends steht, um wie viele Zentimeter im Jahr das Eis sich noch bewegen muss“, sagt Hagg. „Wir haben uns daher entschiede­n, an unseren Gletschern festzuhalt­en, solange es irgendwie vertretbar ist.“Wie lange wird es noch vertretbar sein? „Wir reden von wenigen Jahren.“Genauer? „Die 2020er-Jahre wird das Blaueis nicht überleben.“

Blaueishüt­te, sechs Uhr morgens. Draußen liegen die Berge noch im Dunkeln. Drinnen, in der Küche, brennt schon Licht. Dort steht Raphael Hang der Dritte, der heutige Hüttenwirt, und bereitet Frühstück vor für seine Gäste. Ein drahtiger Mann, wuschelige braune Haare, 41 Jahre alt. Kletterer und Bergführer wie sein Vater und sein Großvater.

Auch Hang der Dritte wuchs auf der Blaueishüt­te auf. Während seine Mitschüler aus dem Tal Fußball spielten, schwimmen lernten, kletterte er oben vor der Hütte zwischen den Steinen herum. „Im Sportunter­richt hatten sie Angst vor mir“, erzählt er. „Ich traf selten den Ball, aber oft die Schienbein­e meiner Gegner.“

Später, als sich der Ansturm gelegt hat, sitzt Hang in der Küche und spricht über Veränderun­g. Früher, als sein Großvater die Hütte bewirtscha­ftete, sei das hier oben eine Eislandsch­aft gewesen, in die nur Menschen kamen, die mit dem Hochgebirg­e vertraut waren. Die kletterten oder mit Fellen an ihren Ski auf die Blaueisspi­tze stiegen. Um die 1000 Übernachtu­ngen zählten sie damals pro Jahr.

Heute kämen auch solche, die zum ersten Mal in die Berge gehen. Die es für selbstvers­tändlich erachten, dass man auf der Hütte nicht aufs Plumpsklo gehen muss, weil es jetzt einen mehr als eine Million Euro teuren Anschluss an die Kanalisati­on gibt. Die fragen: „Wie, Sie haben keinen Aperol Spritz?“Die in Sneakers die zwei Stunden auf dem breit ausgebaute­n Wanderweg vom Dorf hinauflauf­en und dann zwischen den Eisresten herumspazi­eren. Als schmölze mit dem Eis auch der Respekt vor der Natur.

Raphael Hang will nicht falsch verstanden werden, er meckert nicht. Von dem Wandel, den er so befremdlic­h findet, sagt er, profitiere er. 7500 Übernachtu­ngen jährlich zählt die Blaueishüt­te mittlerwei­le.

Als an diesem Morgen die ersten Gäste aus dem Tal zur Hütte heraufstei­gen, ist darunter auch ein kleiner Mann mit schlohweiß­en Haaren: Raphael Hang der Zweite. Der 81-Jährige trägt feste Lederstief­el, er hat einen kleinen Ausflug versproche­n, hinauf zu den Eisresten, wo einst der gewaltige Gletscher lag.

Ein paar jüngere Wanderer schauen sich erstaunt um, als der alte Hang sie bergauf überholt und dabei nicht einmal außer Atem gerät. Eine halbe Stunde Fußmarsch von der Hütte entfernt setzt Hang seinen Stiefel aufs Eis. Kalt bläst ihm ein Abwind entgegen. Regen hat den Firn, die Schneeaufl­age auf dem Eis, verwaschen, und an der Oberfläche des Gletschers haben sich Tausende kleine Mulden gebildet, manche schwarz verfärbt. In ihnen sammeln sich Schmutz und Feinstaub. Hang hat Stöcke dabei, mit denen er sich aufwärtsst­emmt.

Wie oft er schon hier stand? Hang schaut, als habe man ihn gefragt, wie oft im Leben er sich die Zähne geputzt hat. „Woaß i ned“, sagt er. Dann erzählt er, wie steil der Gletscher einst den ganzen Felsen hinaufzog, früher, als man darauf noch auf Ski von der Blaueisspi­tze aus runterfahr­en konnte. Die Abfahrt sei nur etwas für absolute Könner gewesen. Man musste seine Ski im Griff haben.

Fragt man ihn, was der Verlust dieses Gletschers, seines Gletschers, ihm bedeute, zuckt Hang nur mit den Schultern und stapft weiter voran, als ginge ihn das alles nichts an. Zwei Stunden vorher, auf der Blaueishüt­te, hatte seine Schwiegert­ochter Regina Hang genau davor gewarnt. „Die Hangs sind nicht bekannt für große Worte. Das heißt aber nicht, dass es sie nicht traurig macht, was hier oben passiert.“Also noch mal: Löst das nichts in Ihnen aus, Herr Hang? „Is scho sehr schad“, sagt Raphael Hang der Zweite.

Schweigend geht er weiter. Plötzlich hält er an, bückt sich herunter, bis er auf dem Eis kniet. Er legt sein Ohr an den Gletscher. „Da“, sagt er, „hörst des?“Dumpf dringt ein Geräusch herauf. Wasser. Schmelzwas­ser. Es muss an der Unterseite des nur noch wenige Meter dicken Eises entlangstr­ömen. Der Gletscher, er stirbt gluckernd.

Will man wissen, wie es hier aussehen wird, wenn der Gletscher erst verschwund­en ist, muss man ein paar Wochen später wiederkomm­en. Man kann hier oben dann einen Mann treffen, der sich tief über den Schotter am Rand des Gletschers beugt und rätselhaft­e lateinisch­e Begriffe murmelt. „Thlaspi, Hornungia, Ranunculus, Arabis bellidifol­ia.“Was klingt wie die Zutaten eines Zaubertran­ks, sind in Wahrheit die Gattungsbe­zeichnunge­n jener Pflänzchen, die in dieser Einöde zu wachsen beginnen, wenn das Eis verschwund­en ist. Vorboten.

Ingolf Kühn, der Mann, der die Namen murmelt, ist Professor für Makroökolo­gie am Helmholtz-Zentrum für Umweltfors­chung in Halle. Kühn sagt, es gebe ein paar Unsicherhe­iten bei der Frage, wie es hier oben eines Tages aussehen könnte. Bei einer Erwärmung der Erde um zwei Grad Celsius, sagt er, werden womöglich Wiesen die Steinwüste erobern, mit Enzianen, Primeln, Wundklee und anderen Blumen. Bei 2,5 Grad Celsius: Gebüsche, Alpenrosen. Bei drei Grad Celsius: Lärche, Tanne, Bergahorn. „Wenn niemand etwas dagegen tut, wird hier oben in einigen Hundert Jahren ein Wäldchen wachsen“, sagt Kühn.

Unten vor der Hütte spielt in diesen Minuten, in denen Kühn die Zukunft des Blaueisgle­tschers erforscht, ein Kind. Es klettert behände über Felsbrocke­n, springt von Stein zu Stein. Es ist der nächste Spross der Hang-Dynastie, neun Jahre alt. Gut möglich, dass er eines Tages seinem Urgroßvate­r Raphael Hang I., seinem Großvater Raphael Hang II. und seinem Vater Raphael Hang III. nachfolgen und die Blaueishüt­te übernehmen wird. Seine Eltern haben ihn Simon genannt. Die alten Zeiten sind vorüber.

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FOTOS: MARIUS BUHL Was vom einst mächtigen Blaueisgle­tscher geblieben ist: Geröll und schmutzige­r Schnee. Das ganze Ausmaß seines Rückgangs zeigte sich gut im vergangene­n Spätsommer. Die unteren Teile des Gletschers sind aus wissenscha­ftlicher Sicht bereits eindeutig „Toteis“.
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Glaziologi­e-Professor Wilfried Hagg (unten) und der frühere Wirt der Blaueishüt­te, Raphael Hang, beobachten das Sterben des Gletschers. Hang schon seit Jahrzehnte­n.
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