Brutale Willkür in Putins System
Der Antichrist in Gestalt Nawalnys wolle Wirrnis in Russland säen. Um den Staat zu stärken, müsste „die rechtgläubige Geistlichkeit lebensgroße Porträts Wladimir Putins mit einem weißen, quadratischen Heiligenschein“aufhängen, verkündete kürzlich das „Nationalkomitee+60“. Dieser PutinFanclub, der sich zu seinem 60. Geburtstag gegründet hat, aber auch viele Medien betrachten den Konflikt zwischen ihm und Alexei Nawalny als Duell auf Leben und Tod.
Tatsächlich scheint Nawalny mit seiner tollkühnen Rückkehr nach Russland Bewegung in die vaterländische Gesellschaft gebracht zu haben. Und mit seinem danach ausgestrahlten Enthüllungsvideo über einen Prunkpalast, der angeblich Putin gehört. 104 Millionen YouTube-Zuschauer haben es inzwischen gesehen. Zuletzt demonstrierten wieder Zehntausende für Nawalny und gegen Putin.
Nur mangelt es ihnen bisher an Masse. In der Hauptstadt Moskau etwa wagten sich kaum mehr als 20 000 Menschen auf die Straße. Soziologen und Skeptiker verweisen darauf, dass es bei den – ergebnislos versandeten – Protesten 2019 oder 2012 drei- bis sechsmal so viele waren. Die Übrigen bleiben bis auf Weiteres eh lieber zu Hause. Zwar findet man Putin immer weniger sympathisch, aber man ignoriert lieber, dass die russische Justizmaschine nicht nur Nawalny, sondern auch jedem Bürger, die in ihr Räderwerk geraten, die Chance auf einen fairen Prozess verweigert. Wer dagegen auf die Straße geht, bringt sich selbst in gefährliche Nähe zum Räderwerk.
An diesem Dienstag könnte ein Moskauer Gericht Nawalny für mindestens zweieinhalb Jahre einsperren. Die „Organe“wickeln den Fall mit brutaler Willkür ab, Putins System scheint die Reste jener Fähigkeit zu verlieren, sich unbequeme Wahrheiten anzuhören, die eigene Politik zu korrigieren. Putin und sein Staat verknöchern. Und Alexei Nawalny muss womöglich viele Jahre auf einen wirklich historischen Moment warten. Nach kremlnahen Quellen will die Staatsmacht ihn für insgesamt 13 Jahre hinter Gittern bringen.