„In dem Roman steckt viel von meiner Geschichte“
Harald Martenstein verarbeitet in seinem neuen Roman „Wut“eigene Erfahrungen mit Gewalt in der Familie – und forscht nach den Gründen für die Aggressionen
- Ein Kind, das sich ängstlich unter dem Bett versteckt. Eine Mutter, die mit dem Besenstiel nach ihrem Sohn stochert, um ihn herauszudrängen. Und als sie das Kind zu fassen bekommt: Ohrfeigen, immer wieder ins Gesicht. Mit diesen beklemmenden Schilderungen beginnt Harald Martensteins neuer Roman „Wut“. In dem Buch geht es um eine Kindheit voller Gewalt – und um die Frage, welche Folgen solche Erfahrungen für einen Menschen haben. Im Gespräch mit Florian Peking erklärt der Kolumnist und Autor Martenstein, warum er sich dieses sensiblen Themas angenommen hat – und inwiefern er beim Schreiben auch eigene Erfahrungen aus seiner Kindheit verarbeitet hat.
Herr Martenstein, der Titel Ihres neuen Romans deutet bereits darauf hin: Die „Wut“steht im Mittelpunkt. Was bedeutet dieses Gefühl für Sie?
Wut entsteht oft aus dem Gefühl der Ohnmacht. Du hast den Eindruck, nichts machen zu können, keine Handlungsoptionen zu haben, so entsteht Wut. Es ist eine Aggression, die aus Ohnmachtsgefühlen heraus entsteht. Der Titel „Wut“könnte zu der Annahme verführen, dass es um die politische Wut geht, die im Moment ja in den verschiedensten Bereichen umgeht. Aber mir geht es um eine andere Wut. Die Wut in meinem Roman entsteht aus der Ohnmacht eines Kindes heraus.
In Ihrem Roman scheint es, als würde die Wut eines Menschen, ausgelöst durch schreckliche Taten, auch auf seine Nachkommen übertragen. Sind wir der Wut in diesem Sinne ausgeliefert?
Das ist die Angst, die der Erzähler im Roman hat: Dass der Kreislauf von Wut und Gewalt sich immer weiterdreht. Ich glaube, das ist etwas, das alle empfinden, die Gewalt in ihrer Kindheit erlebt haben und dann selbst Eltern werden. Wird man es schaffen, es anders zu machen?
Das Buch beginnt mit einem Prolog und endet mit einem Epilog. Dort rücken Sie die Geschichte in die Nähe Ihrer eigenen Erfahrungen. Inwiefern haben Sie beim Schreiben eigene Erlebnisse verarbeitet?
Bestimmte Szenen, die in dem Roman vorkommen, kann man nur schreiben, wenn man auf Erlebtes zurückgreift. Ich habe aber betont, dass es ein Roman ist – und keine autobiografische Erzählung. Aber in dem Roman steckt natürlich vieles von dem, was meine Geschichte ist. Ich muss einen Roman schreiben, wenn ich vor einer Frage stehe, auf die mir keine schnelle, einfache Antwort einfällt.
Welche Frage ist das im Falle von „Wut“?
Kann ein Kind, das regelmäßige Aggressionen in Form von körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt war, verzeihen? Das Schwierige bei der Gewalt gegen Kinder ist die Tatkann sache, dass man von jemandem geschlagen wird, den man liebt. Kinder lieben ihre Eltern – und wollen geliebt werden. Von einem Partner oder einer Partnerin kann man sich lösen, wenn er oder sie einen schlecht behandelt. Aber Kinder werden es ihr Leben lang nicht schaffen, sich von der Urbeziehung zu den scheinbar allmächtigen Eltern zu lösen.
Gelingt es Ihnen im Roman, eine Antwort auf diese Frage zu finden?
Ich habe irgendwo im Roman den Satz geschrieben „Das Kind in mir
nicht verzeihen, aber der Erwachsene kann es“. Darin stecken die Frage und auch die Antwort. Ich erzähle die Geschichte eines Kindes, das in vollkommener Ohnmacht schlimme Dinge erlebt. Dann schwenkt der Roman aber um und erzählt die Geschichte der Person, die diese Gewalt ausübt – in diesem Fall ist das die Mutter. Wenn man das liest – so hoffe ich zumindest – versteht man, wie es dazu gekommen ist. Diese Frau hat ja selbst Schreckliches erlebt. „Wut“ist in gewisser Weise auch ein Frauenroman.
Wie meinen Sie das?
Die Figur scheitert ja auch daran, dass sie eine Frau ist. Sie ist sehr begabt, klug und hat viele Talente. In der Zeit, in der sie aufwächst, scheint ihre einzige Perspektive in den Männern zu liegen, an die sie sich bindet. Es ist die Geschichte eines Scheiterns, auf das die Mutter-Figur mit Verbitterung und Wut reagiert. Da ist dann nur dieses Kind, an dem sie diese auslassen kann. Das Kind ist in der Lage, es als Erwachsener zu verstehen und auch zu verzeihen. Aber da ist natürlich etwas in ihm, über das er nicht hinwegkommt. Das bleibt auch.
Sie sind bekannt für Ihre regelmäßigen Kolumnen. „Wut“ist aber nicht Ihr erster Roman. Was reizt Sie an dieser Textform?
Heute weiß ich: Ich bin Journalist geworden, weil das Schreiben mir Spaß macht, ich damals aber kein Zutrauen zu meinen literarischen Fähigkeiten hatte. Ich dachte: Dafür bist du nicht gut genug. Irgendwann hatte ich das Glück, dass eine Literaturagentin auf mich zukam und mich fragte, ob ich nicht einen Roman schreiben will. Schwupps, plötzlich lag ein Buchvertrag vor mir. Da musste ich meine Angst überwinden. Immerhin gab es einen Abgabetermin. So ist mein erster Roman entstanden: unter Druck.
Wie unterscheidet sich das Schreiben eines Romans vom Schreiben einer Kolumne?
Die Tonlage, die ich in Kolumnen verwende – dieses Schnelle, auf Pointen Zielende – funktioniert im Roman überhaupt nicht. Ich musste das Schreiben also noch einmal neu lernen. Es ist sehr befriedigend, lange bei einem Thema und einer Geschichte zu bleiben, über Monate. Monatelang sich immer wieder an einen großen Text zu setzen und ihn mehrmals zu überarbeiten, das ist schön. Ich leide oft, wenn ich meine alten Zeitungstexte lese und denke: Hättest du ein bisschen mehr Zeit gehabt, dann hättest du es besser hingekriegt. Diese Zeit hat man beim Roman eher.
Ullstein Verlag, 272 Seiten, 22 Euro.