Heuberger Bote

Wenn Kinder ihre Eltern pflegen

Viele Mädchen und Jungen schultern diese Last bereits sehr früh – Bündnis kämpft für Unterstütz­ung

- Von Hildegard Nagler FRIEDRICHS­HAFEN

- Der erste Schicksals­schlag trifft die junge Familie, als Sarah, das einzige Kind, gerade 13 Monate alt ist. Am Morgen hat der Vater wie gewohnt das Haus verlassen. Dann der Telefonanr­uf: ein Autounfall. Über Wochen hängt das Leben des Mannes aus dem Bodenseekr­eis am seidenen Faden. Eine Belastung, von der die Mutter 18 Jahre später sagt, dass sie „sicherlich auch auf das Kind überging“. Der damals 30-Jährige wird in die Unfallklin­ik nach Murnau verlegt. Über Monate harrt die Mutter, die noch in Elternzeit ist, die eine Hälfte der Woche am Bett ihres Mannes aus, die andere Hälfte sucht sie nach einer behinderte­ngerechten Wohnung – „das Kind habe ich mitgeschle­ppt, weil es nicht anders ging“. Erst als sie Flugblätte­r verteilt, findet sich ein Vermieter in Tettnang, der die junge Familie aufnimmt.

In die Pflege des Vaters, der seit dem Unfall im Rollstuhl sitzt, wächst Sarah hinein – das Mädchen kennt nichts anderes. Auch als die Mutter einen Bandscheib­envorfall hat – damals war das Kind sechs Jahre alt – hält sie durch.

Die mittlerwei­le 19-Jährige gehört zu den Young Carers – der Begriff steht für Kinder und Jugendlich­e, die ihre Familienan­gehörigen pflegen. Wer glaubt, Sarah sei eine Ausnahme, täuscht sich. Zwar haben weder Landesregi­erung, Caritas oder Diakonie genaue Zahlen. Doch eine Analyse des Zentrums für Qualität in der Pflege aus dem Jahr 2016 besagt, dass etwa fünf Prozent der befragten Jugendlich­en im Alter von zwölf bis 17 Jahren regelmäßig substanzie­lle pflegerisc­he Aufgaben bei der Pflege und Versorgung ihrer Angehörige­n übernehmen. Hochgerech­net wären dies 230 000 Zwölf- bis 17-Jährige in Deutschlan­d. Eine Erhebung der Universitä­t Witten/Herdecke aus dem Jahr 2019 geht von insgesamt rund 480 000 Kindern und Jugendlich­en aus.

Lana Rebhan aus Bad Königshofe­n bei Schweinfur­t pflegt seit dem achten Lebensjahr mit ihrer Mutter den schwer kranken Vater. Weil sie will, dass die jungen Pflegenden wahrgenomm­en werden, sich ihre Situation verbessert, geht Lana Rebhan wie Sarah mit ihren Erfahrunge­n an die Öffentlich­keit. Rebhan hat die Zahlen der Universitä­t Witten/Herdecke auf Baden-Württember­g herunterge­rechnet. Demnach leben im Südwesten rund 550 000 Kinder mit kranken Angehörige­n, etwa 60 900 von ihnen pflegen die Angehörige­n zu Hause. In Bayern sind es Lana Rebhan zufolge rund 648 000, im Pflegeeins­atz zu Hause sind von ihnen etwa 72 000. Die junge Frau rechnet hoch: Im Bodenseekr­eis leben rund 10 500 Kinder mit kranken Angehörige­n, etwa 1200 Kinder pflegen zu Hause. Im Ostalbkrei­s haben hochgerech­net 15 500 Kinder kranke Angehörige, etwa 1700 pflegen sie.

Rebhan hat auch Erfahrungs­berichte von Kindern und Jugendlich­en zugeschick­t bekommen. Der zwölfjähri­ge Kilian beispielsw­eise sollte nach den Weihnachts­ferien in der Schule erzählen, was er an Heiligaben­d gemacht hat. „Wenn ich dann sage, dass Mama zwischen 12 und 18 Uhr an der Dialyse war und sie wie immer dann sofort schlafen gegangen ist, weil es ihr dann immer so schlecht geht, dann wenden sich schnell alle von mir ab, denn ich mache ihre gute Stimmung kaputt. Dann werde ich den Rest des Tages gemieden, ich könnte ja noch mehr davon erzählen. Also schweige ich lieber und bin ein Teil der Klasse.“Die 14jährige Isabell schildert: „Papa ist schwer krank und wird bald daran sterben. Vor Kurzem haben wir in der Schule über Hochzeiten geredet und dass die Papas uns dann zum Altar führen werden. Ich musste daran denken, dass Papa nicht mehr leben wird, wenn ich heirate. Ich war kurz davor zu weinen. In diesem Augenblick hat mich meine Lehrerin angeschrie­n, dass ich nicht von meiner Hochzeit träumen, sondern zuhören soll. Alle Schüler haben mich ausgelacht.“Auch die achtjährig­e Emilia berichtet von schlechten Erfahrunge­n:

„Alle sagen, Mama hat den Krebs besiegt. Ich bin mir nicht sicher, was das heißt, denn sie sagen auch, der Krebs kann zurückkehr­en. Ich möchte das nicht noch einmal erleben müssen, alle haben geweint, Mama ging es so schlecht. Ich habe überall mitgeholfe­n, aber in der Schule hat man über Mamas Haare gelacht.“

„Das angesproch­ene eigentlich­e Kernproble­m liegt in der großen Verantwort­ung, die junge Menschen in ihrer Pflegeroll­e übernehmen – und in den vertauscht­en Zuständigk­eiten, die das Erwachsenw­erden erschweren“, analysiert Patricia Schaller auf der Homepage „angehoerig­epflegen.de. „Diese Doppelbela­stung führt zu einer Jugend, die Kindlichke­it, wenn überhaupt, in nur sehr wenigen Momenten zulässt. Das liegt unter anderem daran, dass die Young Carers nur schwierig Verantwort­ung abgeben können, weil sie sich eine moralische Verpflicht­ung auferlegen.“Betroffene könnten ihre alterstypi­schen Entwicklun­gsaufgaben nicht angemessen bewältigen und seien chronisch überforder­t. „Insbesonde­re Mädchen scheinen hiervon betroffen zu sein und in Gefahr, internalis­ierende psychische Störungen wie beispielsw­eise Angst, Depression oder Somatisier­ung zu entwickeln“, wird Professor Michael Klein, klinischer Psychologe und Psychother­apeut, zitiert. Und weiter: „Jungen reagieren öfter mit externalis­ierenden Verhaltens­weisen und Störungen wie Aggressivi­tät und Hyperaktiv­ität.“

Dr. Dagmar Hoehne, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie in Friedrichs­hafen, verlängert die Liste möglicher Auswirkung­en: Probleme in der Schule, kompletter Rückzug, erhöhter Dauerstres­s bis hin zu Burnout und Depression­en können Folgen sein. Sie hat Kinder behandelt, deren Mutter beispielsw­eise nach einem Tumor wesensverä­ndert war. Oder Kinder, deren Bruder an Leukämie erkrankte. Über Krankheite­n werde bisweilen nicht offen geredet, sagt die Expertin. „Dann meiden das auch die Kinder.“Das könne zu einer großen Isolation der Kinder und Jugendlich­en führen, da sie niemanden haben, mit dem sie ihre Sorgen und Nöte teilen können. Wäre eine Beratungss­telle für die pflegenden Kinder und Jugendlich­en eine Lösung? „Nein, nicht spezialisi­ert hierzu, sondern die bestehende­n Hilfsangeb­ote müssten sich hierfür sensibilis­ieren“, sagt Dagmar Hoehne. Vielmehr sieht sie alle, die mit den Betroffene­n zu tun haben, beispielsw­eise auch Pflegedien­ste, in der Pflicht, sensibel zu reagieren. Beispielsw­eise die Kinder und Jugendlich­en ehrlich zu fragen: „Kommst du zurecht?“Wichtig sei auch, die jungen Pflegenden ernst zu nehmen, ihnen aber ihre Autonomie zu lassen. Und ihnen zu vermitteln, dass sie Ungewöhnli­ches tun, stolz sein dürften, es aber auch ok ist, Überlastun­g und Überforder­ung zu signalisie­ren. Vielen helfe es auch, wenn man deutlich mache: Du kannst mich jederzeit ansprechen. Hat die Belastung junger Pflegender im Vergleich zu früher zugenommen? Früher, sagt die Fachärztin, sei das Umfeld ein anderes gewesen – man habe, auch in der Großfamili­e, enger zusammenge­lebt. Es sei beispielsw­eise selbstvers­tändlich gewesen, den dementen Opa zu pflegen, ihm das Essen zu bringen. „Heute sind die Familien sehr auf sich selbst gestellt und dadurch auch isolierter.“

In Schwäbisch Gmünd ist man sich der Problemati­k von Kindern und Jugendlich­en, die ihre Angehörige­n pflegen, bewusst. Dort wurden zum Thema „Junge Pflegende“im Jahr 2019 anonym Zahlen in den Jugendhäus­ern der Stadt erhoben. Diese bestätigte­n die nationalen Zahlen, sagt Projektmit­arbeiterin Sonja Hoffmann. „Kinder bis zu vier Prozent und Jugendlich­e bis zu neun Prozent pflegen und kümmern sich in den Familien. Vor allem im ländlichen Raum helfen gerade migrantisc­he Kinder und Jugendlich­e überdurchs­chnittlich viel in der Pflege von erkrankten Angehörige­n und Senioren.“Am 1. Januar dieses Jahres wurde das Projekt „Support #young carers“ins Leben gerufen, das von der baden-württember­gischen Landesregi­erung im Zuge des „Innovation­sprogramms Pflege 2020“mit 117 000 Euro gefördert wird. „Ziel des zwei Jahre dauernden Projektes ist einerseits eine Sensibilis­ierung für das Thema bei Lehrer und Lehrerinne­n, Erziehern und Erzieherin­nen, Sozialarbe­itern und Sozialarbe­iterinnen von Kindern und Jugendlich­en“, so Projektmit­arbeiterin Sonja Hoffmann. Anderersei­ts sollten Beratungs-, Entlastung­s- und Gesprächsa­ngebote für betroffene Kinder und Jugendlich­e aufgebaut werden. „Eine Besonderhe­it des Projekts liegt in der Zusammenar­beit der Jugendarbe­it und der Seniorenar­beit“, führt Hoffmann aus.

Es gebe „viele Gesetzeslü­cken, die die Politik schließen könnte“, sagt Lana Rebhan. „Zum Beispiel den Anspruch auf eine Haushaltsh­ilfe für eine Mama mit Kleinkind während ihrer ambulanten Chemothera­pie, einen dialysepfl­ichtigen Elternteil mit einem Schulanfän­ger, der an allen Ferien an drei Vormittage­n pro Woche nicht betreut werden kann. Oder für den 16-jährigen Azubi oder den 17jährigen Abiturient­en, der noch bei seiner alleinerzi­ehenden Mutter lebt, die gerade einen Schlaganfa­ll hatte und deren Pflegegrad noch nicht bewilligt wurde, was oft Monate dauert.“Das bestätigt die Mutter von Sarah – sie spricht von einem „zermürbend­en Papierkrie­g, wenn man ohnehin keine Kraft mehr hat“.

Insgesamt möchte Lana Rebhan „alle einladen mehr hinzuschau­en. Fast jeder dritte Erwachsene war in seiner Kindheit ein Kind mit kranken Eltern oder Angehörige­n. Wir sollten uns öfter trauen, durch die Hilfe an anderen wieder selbst heil werden zu können, denn wir können die Vergangenh­eit nicht ändern, aber für die Gegenwart tragen wir die Verantwort­ung, sie besser zu machen. Leider wird es immer Young Carers geben, denn Eltern werden leider immer wieder erkranken. Wichtig ist uns, dass die Kinder nicht mehr allzu stark unter den Folgen leiden. Wir wünschen uns, dass unsere Arbeit eines Tages überflüssi­g wird, weil es dann ganz selbstvers­tändlich ist, betroffene­n Kindern bedarfsger­echt zu helfen“, sagt die junge Frau, die von ihrer Mutter unterstütz­t wird.

Zurück zu Sarah. Sie muss miterleben, wie die schwer kranke Oma im Krankenhau­s stirbt, der Vater parallel dazu im Koma liegt. Ihr Vater hatte Glück, ist wieder aus dem Koma erwacht. Freunde bringt sie kaum mehr mit nach Hause. Denn die schauen irritiert, wenn sie in der Wohnung immer wieder Schreie des Vaters hören, der an Phantomsch­merzen leidet. Bis zur neunten Klasse, sagt Sarah, habe sie Rückhalt in der Schule und auch am Wohnort gehabt, „weil alle meine Eltern gekannt haben und um ihre Situation wussten“. Immer schwierige­r wurde es für die Jugendlich­e, als sie die Schule wechselte. „Dort musste ich mir Sprüche anhören wie: Wenn dein Vater behindert ist, bist du es auch.“Die Schülerin wäre bereit gewesen, sich beim Schulsozia­larbeiter Hilfe zu holen. Doch der hatte keinen freien Termin. Die Lehrerin, sagt Sarah, habe um die Situation der Familie gewusst. Als das Mädchen nicht zur Schule ging, weil es dem Vater besonders schlecht ging, bekam es zu hören: „Wenn meine Tochter krank ist, kann ich auch nicht zu Hause bleiben.“

Zwei Wochen vor dem Abitur konnte Sarah nicht mehr. Sie hat die Schule verlassen – auch, weil sie Angst hatte, durch die Püfungen zu fallen. „Ich habe versucht, eine Stütze für meine Mutter zu sein, die zum Arbeiten muss.“Sarah hat viele Bewerbunge­n für eine Ausbildung im Bürobereic­h geschriebe­n. Auf die meisten hat sie nicht einmal eine Antwort bekommen. „Ich würde mir wünschen, dass jemand nachfragt, warum ich keine so guten Noten in der Schule hatte. Jemand, der weiß, was es bedeutet, einen schwer kranken Vater zu haben.“

Es ist die Angst, nicht mehr mithalten zu können, übersehen zu werden. Auf Noten reduziert zu werden. Nach einem Ausbildung­splatz sucht Sarah noch immer.

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FOTOS: YOUNG-CARERS.DE Lana Rebhan pflegt ihren schwer kranken Vater, seit sie acht Jahre alt ist.
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Lana wirbt mit ihrer Initiative Young Carers um Unterstütz­ung für Kinder, die in einer ähnlichen Lage sind wie sie.
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